„Angenommen Sie sind als Militärarzt Leiter eines Lazaretts. Ihre Penicillin-Vorräte gehen zur Neige und eine weitere Lieferung ist nicht in Sicht. Im Lazarett liegen unterschiedliche Patientengruppen. Alle sind derart erkrankt, dass Sie das Penicillin benötigen: Eine Gruppe von Offizieren und militärischen Führungskräften, eine Gruppe schwerst verwundeter Soldaten, eine Gruppe junger Soldaten, die sich mit Syphilis angesteckt haben. Wem geben Sie das Penicillin?“
Dieser Triage-Fall aus dem militärmedizinischen Bereich dient als klassisches Beispiel in medizinethischen Schulungen, um anhand einer Dilemmasituation den eigenen ethischen Begründungsmustern auf die Spur zu kommen. Die Diskussionen und möglichen Antworten zu diesem Fall offenbaren nämlich, ob man eher prinzipiell oder eher situativ, eher kategorisch oder eher zweckdienlich entscheidet und argumentiert.
Dass es in unseren Tagen zu einer vergleichbaren, realen ethischen Entscheidungssituation kommen würde, hätte niemand gedacht. Alle bisherigen Diskussionen um Ressourcenallokation, Rationierung und Rationalisierung im Gesundheitswesen waren eher theoretischer und akademischer Natur.
Nun stehen wir vor der Tatsache, dass im Rahmen der Corona-Pandemie eines der besten Gesundheitssysteme der Welt der anstehenden Belastung wohl nicht gewachsen sein wird. Trotz bereits erfolgter Kapazitätserhöhung werden nach aktuellem Stand auch in Deutschland nicht ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle zu behandelnden Patienten zur Verfügung stehen.
Die Medizinwelt ist alarmiert und hat vor einigen Tagen Empfehlungen erarbeitet und veröffentlicht, die zu erwartende Konflikte bei Entscheidungen über intensivmedizinische Behandlungen in den Blick nehmen:
„Wenn die Ressourcen nicht ausreichen, muss unausweichlich entschieden werden, welche intensivpflichtigen Patienten akut-/intensivmedizinisch behandelt und welche nicht (oder nicht mehr) akut-/intensivmedizinisch behandelt werden sollen. Dies bedeutet eine Einschränkung der sonst gebotenen patientenzentrierten Behandlungsentscheidungen, was enorme emotionale und moralische Belastungen für das Behandlungsteam darstellt“ (COVID 19 Ethik-Empfehlung vom 26.3.2020). Entscheidungen sollen daher immer im Mehraugen-Prinzip in berufs- und fachgruppenübergreifenden Teams getroffen werden, transparent gegenüber Patienten und Angehörigen. Dabei gilt der Grundsatz, dass aus ethischen und aus verfassungsrechtlichen Gründen Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden dürfen. „Entscheidungen über die medizinische Versorgung werden grundsätzlich vor dem Hintergrund des Bedarfs des einzelnen Patienten getroffen“ (ebd.). Da gleichzeitig Behandlungsressourcen verantwortungsbewusst eingesetzt werden müssen, kommt aber eine überindividuelle Perspektive hinzu.
Die vier bisherigen medizinethischen Prinzipien zur ethisch verantwortlichen Beurteilung eines Einzelfalls bleiben also auch in Notzeiten in Kraft. Neben den beiden Hauptfaktoren, der medizinischen Indikation unter dem Gesichtspunkt von Wohl-Tun/Nicht-Schaden, sowie dem Faktor des Patientenwillens (Respekt vor Autonomie) bekommt nun aber der vierte Faktor „Gerechtigkeit/Verantwortung vor Dritten“ mehr Gewicht. Entscheidend ist, dass dieser vierte Faktor in der Entscheidungsfindung nicht die Führungsrolle übernimmt. „Die Priorisierungen erfolgen ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern aufgrund der Verpflichtung, mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen. Die Priorisierung von Patienten sollte sich deshalb am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren, was nicht eine Entscheidung im Sinne der „best choice“ bedeutet“ (ebd.).
Im Gegensatz zu Meldungen aus Frankreich, in denen es heißt, Erkrankte über 80 Jahre werden grundsätzlich nicht intensivmedizinisch behandelt, hat man sich in Deutschland also bewusst gegen eine solche kategorische Selektion entschieden. Alles andere, so die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats, würde auch den fundamentalen Vorgaben der Verfassung widersprechen. „Die Garantie der Menschenwürde fordert eine egalitäre Basisgleichheit… eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen „Wertigkeit“ oder einer prognostizierten Lebensdauer muss seitens des Staates unterbleiben. Diese Vorgaben widerstreiten einem rein utilitaristischen Modus des Abwägens im Sinne einer bloßen Maximierung von Menschenleben oder Lebensjahren“ (Ad hoc-Empfehlung Corona Krise vom 27.3.2020).
So wenig in diesem Sinne der Staat Vorgaben zur Bewertung menschlichen Lebens machen darf, so wenig kann die Verantwortung einzelnen Ärztinnen und Ärzten überlassen werden. Damit diese in solchen dilemmatischen Situationen katastrophaler Knappheit medizinischer Ressourcen über Leben und Tod entscheiden müssen. Daher sind die Leitlinien, die auf kollektive Verantwortung, Sorgfalt und Transparenz setzen, zu begrüßen. Sie können die beteiligten Personen entlasten und das Vertrauen der Bevölkerung in das Krisenmanagement stärken. Sie helfen mit wohlüberlegten, medizinisch und ethisch gut begründeten Kriterien für die gegebenenfalls notwendige Priorisierung. Trotzdem bleibt es außerordentlich, was in diesen Tagen an ärztlichem und pflegerischem Tun verlangt wird. Das hat unseren höchsten Respekt verdient.
Was können wir unterstützend tun?
Wer als Wille verfügt hat, dass er im Falle einer aussichtslosen Erkrankung auf jede künstliche Lebensverlängerung verzichten will, kann dies für eine finale Corona-Infektion nochmals durchdenken und präzisieren. Patienten nämlich, die eine Intensivtherapie ablehnen, werden ihrem vorauserklärten oder aktuell geäußerten Willen entsprechend auch nicht intensivmedizinisch behandelt. Dieser sensible Bereich des Nachdenkens über das eigene Sterben kann aber nicht erzwungen werden und muss aus Respekt vor der Sicht jeder und jedes einzelnen auch ergebnisoffen gehalten werden. Wann jemand auf eine Behandlung verzichten möchte, muss jeder selbst entscheiden. Wo diese Entscheidung aber verantwortlich und wohlüberlegt getroffen wurde, kann sie ärztliches Handeln erheblich erleichtern.
Unsere erste Verantwortung und unser naheliegendster Teil zur Unterstützung des Gesundheitssystems ist aber weiterhin die strikte Einhaltung der derzeit geltenden Regeln zur Eindämmung der Pandemie. Jedes Bett, das durch mein präventives Verhalten nicht gebraucht wird, steht im Notfall jemand anderem zur Verfügung. Die unangenehme Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit und meiner Entfaltungsrechte befolge ich nicht aus Sorge vor Sanktionen und allein aus Sorge um die eigene Gesundheit, sondern aus Respekt vor dem Wohl der anderen. Dabei hilft mir Albert Schweitzers Grundsatz der Ehrfrucht vor dem Leben: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.
Der Theologe Dr. Dietmar Merz ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medizinethik und Gesundheitspolitik.