Nationale Geschichtsbilder im gemeinsamen Europa

NATIONAL IMAGES OF HISTORY IN A COMMON EUROPE

EIN ERASMUS+ GEFÖRDERTES PROJEKT

Bundesarchiv Bild 101I-164-0389-23A, Athen, Hissen der Hakenkreuzflagge
Das Thema

Welche wichtige und mitunter auch unheilvolle Rolle eine staatliche Geschichtspolitik, historische Narrative und nationale Erinnerungskulturen zur Legitimierung politischer Entscheidungen spielen, das zeigt aktuell der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Denn dieser Krieg ist auch der Krieg zweier gegensätzlicher Erinnerungskulturen. Auf russischer Seite wurde er vorbereitet und wird legitimiert mit einem in geschichtspolitischer Absicht fabriziertem historischen Narrativ, das der Ukraine jegliches Recht auf Eigenständigkeit und nationale Selbstbestimmung bestreitet.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist somit auch der Krieg unterschiedlicher historischer Narrative und sich gegenseitig ausschließender Erinnerungskulturen.

Geht es nicht auch anders? Können wir das in Europa nicht besser machen?

Denn auch die Europäische Union lebt ja mit einer Vielzahl unterschiedlicher historischer Narrative und sehr diversen nationalen Erinnerungskulturen. Und auch in Europa stehen diese Narrative oftmals hinter unterschiedlichen politischen Zielen oder Strategien der Mitgliedsstaaten der Union.

Das Projekt „Nationale Geschichtsbilder im vereinten Europa“ arbeitet zu der Frage nach der Vielfalt der nationalen Erinnerungskulturen im vereinten Europa.
Es nimmt exemplarisch das Thema der unterschiedlichen Erinnerungen in Deutschland und Griechenland an die Zeit der deutschen Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg von 1941 – 1944 in den Blick. 

Welche Rolle spielt die Erinnerung an diese Zeit von Krieg, Besatzung und Verfolgung in Griechenland? Welche Rolle spielt diese Zeit in der Erinnerungskultur in Deutschland? Ist diese Ge-schichte in Deutschland überhaupt bekannt? Wird sie ganz anders erinnert oder wird sie bis heute verdrängt? Wo blitzen die unterschiedlichen Erinnerungen an die deutsche Okkupation Griechenlands auch in aktuellen politischen Diskursen auf?
Ist das in Deutschland weit verbreitete Verdrängen der Verbrechen von Wehrmacht und SS in Griechenland der Grund für die allergischen Reaktionen in Deutschland, wenn die griechische Seite die Frage nach Entschädigungszahlungen stellt oder in der Finanzkrise auf die nie zurückgezahlte Zwangsanleihe, die die griechische Nationalbank 1942 an Deutschland ausgeben musste, verweist? Dieser Zwangskredit in Höhe von 476 Millionen Reichsmark an das Dritte Reich wurde nie zurückbezahlt.

Deutsche und griechische Erinnerungen an diese Zeit gehen womöglich sehr weit auseinander. Darum soll in einem ersten Schritt das Kennenlernen der Erinnerungskultur des Partners und die Aufklärung über die Geschichte stehen.

Ein mögliches Ziel

Können politische Konflikte, in denen unterschiedliche und sich widersprechende Erinnerungskulturen eine Rolle spielen, nicht entschärft werden? 
Womöglich kann ein besseres Kennen und Verstehen des Partners und seiner Sicht auf gemeinsame Geschichte, das Teilen von Erinnerungen dabei helfen.
Ziel wäre es dann aber nicht, ein gemeinsames europäisches historisches Narrativ zu entwickeln, sondern die unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen und Erinnerungen wahrzunehmen und anzuerkennen.
Dabei lässt sich womöglich auch der Reichtum vieler unterschiedlicher historischer Erfahrungen und Erinnerungen in einem gemeinsamen Europa entdecken.

Die Akteure

Als Akteure in der politischen Erwachsenenbildung tauschen sich Studienleitende der Evangelischen Akademie Bad Boll von deutscher Seite und Studienleitende der Orthodoxen Akademie auf Kreta von griechischer Seite aus über ihren Umgang mit ihren jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen.

Dabei geht es auch um die Frage, welche Rolle diese Erinnerungskulturen und die nationalen historischen Narrative in der politischen Bildungsarbeit spielen.

Bei gegenseitigen Besuchen und Hospitationen auf Kreta und in Bad Boll lernen die Studienleitenden die Arbeit des Partners und die politische Bildungsarbeit an den beiden Akademien kennen. Sie informieren sich über den Umgang mit der Vergangenheit und den Erfahrungen von Krieg und Diktatur in Deutschland und Griechenland.

Dafür gibt es Gespräche mit Wissenschaftler*innen, Akteur*innen in der Bildungs- und der Gedenkstättenarbeit sowie Austauschrunden über die Frage, welche Rolle Erinnerungskulturen und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der politischen Bildung spielen oder spielen sollten.

Die Projektidee

Das Projekt startet mit einer gemeinsamen dreitägigen Klausur der Studienleitenden der Orthodoxen Akademie auf Kreta und der Evangelischen Akademie Bad Boll in Strasbourg.
Bei dieser Klausur geht es um ein erstes Kennenlernen der politischen Bildungsarbeit des Partners und wissenschaftliche Einführungen in die Geschichte der deutschen Okkupation Griechenlands 1941 – 1941 sowie dem jeweiligen Umgang mit diesem Teil der Geschichte der NS-Gewaltherrschaft in Europa.
Strasbourg wurde aus zwei Gründen als Ort der Klausur gewählt: Zum einen wegen der Möglichkeit, dort mit Akteur*innen der EU-Politik ins Gespräch zu kommen über die Frage, welche Rolle die unterschiedlichen nationalen historischen Narrative in aktuellen politischen Diskussionen in der EU spielen. Zum zweiten, um am Beispiel der Bemühungen um die Versöhnungsarbeit zwischen Frankreich und Deutschland ein Beispiel für das „Healing of Memories“ vor Augen zu haben.
Nach Möglichkeit sollen auf dieser Klausur und aufgrund der dortigen Begegnungen und Diskussionen zwei binationale deutsch-griechische Arbeitsgruppen gebildet werden. Diese Gruppen werden an zwei Formaten für die politische Erwachsenenbildung arbeiten, sich zu gegenseitigen Hospitationen besuchen und das Thema des Umgangs mit der NS-Geschichte in ihrem jeweili-gen Land vertiefen.

Zum Stand der Arbeit

Das Projekt startete, wie geplant, vom 13. bis 15. Juli in Strasbourg mit der Klausur der Studienleitenden aus Kreta und Bad Boll und einem dichten Programm aus Begegnung, Austausch, Vorträgen und Diskussionen (das Programm der gemeinsamen Klausur finden Sie HIER). Einführend ging es nach einer kurzen Information zum Thema „Erinnern“ („Zachor“, die Bemerkungen zum Thema Erinnern von Wolfgang Mayer-Ernst finden Sie als Podcast HIER bzw. als PDF-Datei HIER), um Informationen zum Aufbau einer Städtepartnerschaft zwischen Platanias (Griechenland, Kreta) und Nierolm (Rheinland-Pfalz) sowie die Entwicklung der Städtepartnerschaft zwischen Stuttgart (Baden-Württemberg) und Brno (Tschechien). In beiden Partnerschaften spielt die Erinnerung an die NS-Zeit bzw. die unmittelbare Nachkriegszeit, an Besatzung und Vertreibung eine wichtige Rolle.

Am Beispiel des Oberrheins und des Alsace/Elsass wurde gemeinsames Erinnern an die Zeiten deutsch-französischer Feindschaft und der Kriege 1870/71, 1914 – 1918 und 1939 – 1945 als Teil der Verständigungsarbeit zwischen den beiden Ländern vorgestellt (die Präsentation von Albrecht Knoch: „Franchir les frontièrs“ finden Sie HIER).

Der zweite Tag diente dem Kennenlernen der Geschichte der deutschen Okkupation Griechenlands, der Besatzungspolitik und der Gewaltpolitik von Wehrmacht und SS in Griechenland. Einführend dazu hielt Dr. Vaios Kalogrias (Universität Mainz) seinen Vortrag „Deutsche Okkupation Griechenlands 1941 – 1944“ und führte damit in den Stand der wissenschaftlichen Forschung zum Thema ein (den Vortrag finden Sie als Podcast HIER bzw. als PDF-Datei HIER).

In einem weiteren Teil ging es darum, wie sich historische Narrative in Schulbüchern niederschlagen und wie Schulbücher dazu dienen, identitätsstiftende Narrative zu formulieren und eine „Autobiographie“ des Staates zu schreiben. In Schulbüchern lässt sich darum zum einen die staatliche Geschichtspolitik ablesen bzw. kann an ihnen aufgezeigt werden, welche Themen verdrängt werden und darum in der Erinnerungskultur keine Rolle spielen.

Für die erste Möglichkeit steht Griechenland, wo in den Phasen von Nachkrieg, Diktatur und Demokratie sehr verschiedene geschichtspolitische Intentionen in das historische Narrativ eingehen, die sich so auch in den Schulbüchern für den Geschichtsunterricht ablesen lassen. Bei der zweiten Möglichkeit steht das Nichterwähnen der deutschen Gewaltherrschaft in Griechenland für das völlige Verdrängen dieser Geschichte in der Bundesrepublik. Dieses Verdrängen dürfte mit ein Grund sein für die Verwunderung und Verärgerung, die griechische Verweise auf Kriegsverbrechen und Ausplünderungen während der Besatzung in Deutschland hervorrufen, wenn sie im Kontext von aktuellen politischen Diskussionen wie in der Finanzkrise formuliert werden (den Vortrag von Dr. Kalogiras und die Präsentation von Dr. Heike C. Mätzing zu „Schulbüchern als nationalen Autobiographien“ finden Sie HIER).

In einem dritten Teil berichte Prof. Dr. Peter Gottschalk von seinen Erkenntnissen als Themenverantwortlicher bei ARTE und den Auswirkungen unterschiedlicher französischer und deutscher Erinnerungen auf die Arbeit in einem deutsch-französischen Fernsehsender.

Prof. Dr. René Repasi MdEP macht den Abschluss der Sommerklausur. Er erzählte von seinen Erfahrungen in der EU-Politik und der Rolle unterschiedlicher nationaler Erinnerungskulturen in der gemeinsamen europäischen Politik, z.B. am Beispiel des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und dem Scheitern der Perspektive eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ mit Russland.

Aus der Sommerklausur heraus entstanden zwei transnationale griechisch-deutsche Arbeitsgruppen, die ab Frühjahr 2022 an zwei Formaten der Bildungsarbeit arbeiten wollen:

AG 1:
Zum Umgang mit der Erinnerung: Griechische und deutsche Erinnerungskulturen mit Blick auf die deutsche Okkupation Griechenlands 1941 – 1944. 
Entwicklung eines binationalen Bildungsformates zum Thema für die Erwachsenenbildung
AG 2:
International Tourism, sustainability and memorial-culture 

Die Protokolle der gemeinsamen Klausur und der Treffen der Arbeitstreffen finden Sie HIER.

In einer Episode des Podcasts HörRäume tauschen sich drei Studienleitende der Evangelischen Akademie Bad Boll über das Projekt und den Austausch mit den Kolleg*innen der Orthodoxen Akademie aus. 

Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.