Menschen mit Behinderung fürchten „Aussortierung“

Aus der Perspektive von Betroffenen

„Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und Vorerkrankungen“. Im Fernsehen äußerte sich der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer jüngst zum Vorgehen im Rahmen der Corona-Pandemie.

Damit meinte er mich – 64 Jahre mit Vorerkrankung – und alle Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Weil wir sowieso angeschlagen und Todeskandidaten sind. Denn ab 65 ist man einfach alt und es wird gestorben. Für kranke und beeinträchtigte Menschen sollte man demnach keinen Aufwand betreiben. Palmer hat sich inzwischen entschuldigt. Aber gesagt ist gesagt.

Diese Bemerkung ist zynisch und unerträglich. Solches Denken spaltet die Gesellschaft: in Alte und Junge, Beeinträchtigte und Gesunde. Und sie nährt die Furcht der Betroffenen vor „Aussortierung“. In Deutschland leben 18 % Risikopatienten. Kann eine Behinderung zum Todesurteil werden? Wird Leben gegen Leben gestellt?

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), ein Zusammenschluss aus sieben medizinischen Fachgesellschaften, hat im Rahmen der Corona-Pandemie zu dieser Thematik einen Leitfaden erstellt. Dazu nimmt Raul Krauthausen Stellung:

„Für Menschen mit Behinderung sind diese Triage-Empfehlungen (aus dem französischen „trier“ = aussuchen, aussortieren), wie sie die Fachgesellschaften nun vorschlagen, ein Alptraum. Denn hinreichend unscharf formuliert, dafür zugleich voll von Diskriminierung, dient der Leitfaden als Einfallstor, um sich im Zweifelsfall gegen das Leben eines Menschen zu entscheiden, nur weil er eine Behinderung hat.“

Raul Krauthausen ist Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, Gründer des gemeinnützigen Vereins Sozialhelden, wurde 2013 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und ist aufgrund der sog. Glasknochenkrankheit auf einen Rollstuhl angewiesen.

Wenn im Notfall die Beatmungsgeräte nicht ausreichen, wie wir es in Italien gesehen haben, entscheiden Ärztinnen und Ärzte über Leben oder Tod. In diesem Leitfaden wird zudem beschrieben, wer die höchsten Überlebenschancen hat, soll vorrangig behandelt werden:  

„Die Priorisierung von Patienten sollte sich deshalb am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren, was nicht eine Entscheidung im Sinne der „best choice“ bedeutet, sondern vielmehr den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen keine oder nur sehr geringe Erfolgsaussicht besteht.“

Dem gegenüber steht Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Menschenwürde schützt. Folgerichtig und gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, resultiert daraus der Grundsatz, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf.

Unter den Kriterien, die einen schlechteren Behandlungserfolg implizieren, werden die sog. „Komorbiditäten“ genannt, wie z.B. „weit fortgeschrittene generalisierte neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen“. Das ist alarmierend und eines der potenziellen Einfallstore. Es gibt viele Menschen mit neurologischen oder neuromuskulären Erkrankungen. Mehr oder weniger weit fortgeschritten und „generalisiert“ ist vieles. Darüber hinaus sind die Betroffenen jedoch gesund. Solche Formulierungen nähren die Befürchtung von betroffenen Menschen, dass sie „aussortiert“ oder nicht versorgt werden könnten, ihre Behinderung im schlimmsten Fall zum Todesurteil wird.

Es heißt, bei der Risikogruppe gehe es um Alte und Schwache. Dass es auch Menschen betrifft, die weder alt noch schwach sind, ist vielen nicht bewusst: Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen.

Krauthausen nimmt wahr, dass die Menschen als Gesellschaft näher gerückt sind und das stimmt ihn zuversichtlich: „Wenn das Virus uns eine Sache gelehrt hat, dann dass wir alle Menschen sind. Dass das Virus keine Ausnahme macht zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, Jung und Alt, behindert und nichtbehindert. Sondern, dass wir eine Menschheit sind und wir nur gemeinsam diese Krise bewältigen.“

Seit 1985 ist Christa Engelhardt Studienleiterin für den Themenbereich „Gesellschaft, Politik, Staat“. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Lebensformen, Diversity und Soziales.

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