Langsam sinken die Zahlen der deutschen Corona-Statistik. Die Geimpften sind bald keine „Privilegierten“ mehr. Biergärten füllen sich und man kann sich auf den Sommer freuen, inklusive eines Glases Gänsewein oder Apfelschorle. Mit etwas Glück werden wir in den nächsten Monaten den Albtraum Pandemie komplett hinter uns lassen und zu einer Art Normalität zurückkehren. Doch ist das überall so einfach?
Eine der Folgen der Corona-Pandemie ist das Hervortreten der dramatischen Ungleichheiten und Gegensätze in der globalen Gesellschaft. Besser gesagt, die Verdeutlichung einiger Zusammenhänge. Während Westeuropa die Tragödie zu überwinden scheint, schlägt Covid-19 zum dritten, ja sogar zum vierten Mal in mehreren Ländern Afrikas und Lateinamerikas zu – und zwar noch stärker. Doch warum? Durch Fahrlässigkeit der Regierungen? Zu wenig Vorsicht in den Bevölkerungen? Das mag zum Teil hier und da stimmen. Doch es ist auch klar geworden, dass sich nicht jedes Land einen Lockdown oder den rasanten Aufbau eines passenden Gesundheitssystems leisten kann. Vor allem hochverschuldete Länder, die zunächst den Schuldendienst bedienen müssen. Und danach? Danach sind die Kassen leer!
Wie haben internationale Organisationen und reiche Ländergruppen, wie die G7 (Zusammenschluss der sieben reichsten Länder, zu denen auch die BRD gehört) oder die G20 (die zwanzig reichsten) agiert bzw. reagiert? Wenige Initiativen wurden in Bewegung gesetzt und alle leiden unter den gleichen Mängeln. So wurde z.B. im Verschuldungsbereich eine Moratoriumsinitiative seitens der G20 vorgeschlagen, für die sich jedoch zu wenig Länder qualifizieren. Die privaten Gläubiger wurden dazu eingeladen, freiwillig teilzunehmen – was sie abgelehnt haben. Somit hat sich die globale Verschuldungskrise nur verstärkt, wie der jüngste Schuldenreport von erlassjahr.de und Misereor belegt. Die deutsche Regierung hat in Musterbeispielen versucht, eine kooperative Rolle zu spielen. Diese Perspektive könnte sich zukünftig verstärken: fünf der sechs größten Parteien haben unterschiedliche Initiativen in ihren Wahlprogrammen festgelegt. Wie ernst das gemeint ist, möchte die Evangelische Akademie Bad Boll am 12. Juli mit Kandidatinnen und Kandidaten im Rahmen der Online-Tagung „Die Lösung der globalen Schuldenkrise und die Rolle der Bundesregierung“ diskutieren. Die Vorschläge würden zwar immer noch nicht ausreichen, wären aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Im Gesundheitsbereich sind ähnliche Probleme vorhanden. Das Hauptinstrument, die Initiative COVAX der Weltgesundheitsorganisation, die einen weltweit gerechteren Zugang zu Covid-19-Impfstoffen unterstützen will, kommt zu kurz. So bleiben weiterhin zu viele Länder aus der weltweiten Impfaktion so gut wie ausgeschlossen. Auch hier beurteilen viele Expertinnen und Experten die zu lockere Bindung der privaten Wirtschaft an der Initiative als sehr problematisch. Impfkonzerne verteidigen eine drastische Version des Patentrechts und erschweren oder verhindern so eine intensive Produktion von Impfstoffen überall da, wo es nötig und möglich wäre. Doch auch die Freigabe der Patente bildet keine strukturelle Lösung, wenn sie nicht Teil grundlegenderer Entwicklungsprozesse ist. Was muss die Politik und was kann die Zivilgesellschaft tun, damit breite Regionen in Afrika, Asien und Lateinamerika nicht in einen dauerhaften und massiven Krisenzustand geraten? Auch darüber wird im Rahmen einer Tagung an der Evangelischen Akademie Bad Boll am 25. Juni beratschlagt.
In Westeuropa und in Deutschland scheint sich die Corona-Lage derzeit zu entspannen. Doch kann die Pandemie dort bald tatsächlich als besiegt erklärt werden? Viren mutieren sehr schnell und fordern die Wirksamkeit von Impfstoffen heraus. Auch der Zusammenhang zwischen der lokalen Lage und dem internationalen Kontext könnte hierzulande zum Verhängnis werden.
Vielleicht wird es langsam Zeit, nicht nur den Klimawandel und die Digitalisierung als gegenwärtige Herausforderungen ernsthaft wahrzunehmen, sondern auch die Entwicklungsproblematik. Nur unter dieser Bedingung können Lösungen langfristig wirken. Dafür brauchen wir unter anderem eine starke Zivilgesellschaft, die im Rahmen einer Verfestigung demokratischer Prozesse, sich für einen zivilisatorischen Wandel engagiert. Oder, wie wir in der Akademie immer wieder sagen „im Dialog Gesellschaft gestalten“.
Prof. Dr. Andrés Musacchio ist Studienleiter für den Themenbereich „Wirtschaft, Globalisierung, Nachhaltigkeit“. Seine Arbeitsschwerpunkt sind Ökonomie und Sozialpolitik.