„Es reut mich nichts“

Interview mit Robert M. Zoske über seine Sophie Scholl-Biografie

© Robert M. Zoske

Im Mai 2021 wäre die Widerstandskämpferin Sophie Scholl hundert Jahre alt geworden. Aufgewachsen ist sie in der schwäbischen Region Hohenlohe und Ulm. Hingerichtet wurde sie im Februar 1943 in München als Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“.
 

Am 5. Juli 2021 ist der Autor, Theologe und Historiker Robert M. Zoske mit seinem Buch „Es reut mich nichts“ über Sophie Scholl zu Gast im treffpunkt 50plus in Stuttgart.

Im Vorfeld hat Studienleiterin Gerda Müller mit ihm über seine neue Sophie Scholl-Biografie gesprochen, darüber, warum Rechtspopulisten keine weiße Rosen tragen können, und über eine andere Erinnerungskultur zu Sophie und Hans Scholl.

Gerda Müller: Zwei Biographien zu Hans und Sophie Scholl haben Sie geschrieben. Woher kommt Ihr Antrieb, sich so intensiv mit den beiden Mitgliedern der Weißen Rose zu beschäftigen?

Robert M. Zoske: Zwei Charaktereigenschaften beeindrucken mich bei den Geschwistern Scholl am meisten: Ihre Entschiedenheit, sich für das Gerechte und Gute einzusetzen und ihr Wille, an Gott zu glauben und gegen Hitler zu kämpfen. Mich faszinierte die Rolle der Religion bei der Entwicklung von Empathiefähigkeit und Freiheitswillen.

Als ich 2012 mit einem Hochschulprofessor für Kirchengeschichte über mein Hans-Scholl-Projekt sprach, winkte er ab: Bei der „Weißen Rose“ sei alles erforscht – jedes Blatt hin und her gewendet. Neues sei nicht zu erwarten. Doch die von mir im Institut für Zeitgeschichte in München entdeckten und erstmalig ausgewerteten 150 Seiten Gedichte von Hans Scholl und weitere von Inge Aicher-Scholl aus taktischen Gründen nicht publizierten Archivalien (etwa über Hans´ Homosexualität), waren die Basis für meine Dissertation „Sehnsucht nach dem Lichte“ (2014). Danach schrieb ich die Biografien über Hans (2018) und Sophie Scholl (2020).

Gerda Müller: Sie zeichnen in Ihrer Biografie eine widerspenstige und auch spröde, fast launenhafte Sophie Scholl. Damit kommt sie einem nah und wird eine sehr menschliche Widerstandskämpferin. Wie ging das Nachkriegsdeutschland mit Sophie und Hans Scholl um? Verschweigen, beschämende Stille oder angemessenes „in Ehren Halten“?

Robert M Zoske: In der allgemeinen Erinnerungskultur verkörpert Sophie Scholl das „Menschliche“ im Idealzustand. Dieses Bild entwarf zuerst Inge Aicher-Scholl in ihrem 1952 publiziertem Buch „Die Weiße Rose“. Das simplifizierende, millionenfach aufgelegte Andachtstraktat prägt bis heute ihr Bild. Sophie erscheint darin als schmiegsame, säkulare Konsensheilige, mit der sich alle identifizieren können: eine selbstbewusste, emanzipierte, junge Frau, an der nichts Anstößiges und Widersprüchliches war. Immer sympathisch, brillant und edel. Doch die Tagebucheintragungen und Briefe zeigen Sophie Scholl nicht als Figur und Fiktion, sondern als verletzbaren und verletzenden Menschen: mit­- und zartfühlend, spirituell, um Glauben und Liebe ringend und zweifelnd. Aber auch willkürlich, unausstehlich und gehemmt. Sie wankte zwischen hoher Begeisterung und tiefer Niedergeschlagenheit. Nach vielen Jahren des Irrtums erkennt sie ihren Fehler. Sophie Scholl vollzieht eine Denkwende und ringt sich zum Widerstand durch. Sind wir bereit, die Ambivalenz des Menschen, die Grautöne und Schwarztöne neben seinen weißen Seiten zu sehen?

Hans Scholl war der führende Kopf der „Weißen Rose“. Ohne ihn hätte es die Widerstandsgruppe nicht gegeben. Entgegen dieser geschichtlichen Tatsache sah man in Sophie Scholl die Zentralfigur.

Gerda Müller: Welche Schlüsseldokumente konnten Sie auswerten, um dieses Bild der Widerspenstigen zu zeigen?

Robert M. Zoske: Die Quellenlage zu den Geschwistern Scholl ist sehr gut. Beide schrieben ausgiebig mit Freunden und der Familie und führten Tagebuch. Das Material liegt im Institut für Zeitgeschichte in München. Hinzu kommen die umfangreichen Prozessunterlagen im Bundesarchiv Berlin, dem Landessarchiv NRW Duisburg und der Bestand weiterer Archive im In- und Ausland. Fast alle Zeitzeugen und Zeitzeuginnen im unmittelbaren Umfeld der „Weißen Rose“ sind verstorben. Ihre Erinnerungen sind aber archiviert.

Gerda Müller: Wegen Corona fielen viele Gedenkveranstaltungen zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl aus oder hatten nur wenige Teilnehmende. Hat das die Gedenkkultur zur „Weißen Rose“ schwer getroffen?

Robert M. Zoske: Unabhängig von Corona droht das Gedächtnis an Sophie Scholl zu einem musealen Denkmal zu erstarren. Die Gedenkenden feiern sich selbst. Inflationär sind hunderte von Schulen und Institutionen nach Sophie Scholl benannt. Nur wenn es gelingt, Realität von Legende, Fakt von Fiktion zu trennen, wird Sophie Scholl als selbstbewusste junge Frau zukünftig ein authentisches, lebendiges Leitbild sein.

Gerda Müller: Coronagegnerinnen und -gegner inszenierten sich im Frühjahr 2021 als Widerständler für die Freiheit. Sie trugen bei Protesten „Weiße Rosen“ oder Plakate der „Weißen Rose“.

Julian Aicher, der Neffe von Sophie Scholl, skandalisierte bei Protesten gegen die staatliche Coronapolitik bewusst mit dem Symbol der „Weißen Rose“. Inwiefern bietet die Erzählung des Widerstands der Geschwister Scholl gegen Hitler Andockstellen, um sie in der rechtsnationalen und rechtsradikalen Szene zu missbrauchen?

Robert M. Zoske: Ich wundere mich sehr über die kurzschlüssige, geschichtsvergessene Gleichsetzung der jungen Frau, die sich „wie Sophie fühlt“, weil sie Flugblätter verteilt oder über den Schollverwandten, der in ihrem Namen gegen die Coronamaßnahmen demonstriert. Eine auf Wissen beruhende, selbstkritische Auseinandersetzung mit der „Weißen Rose“ wäre besser. Klar muss sein: Die demokratische Bundesrepublik kann nicht mit dem totalitären Nazi-Deutschland parallel gesetzt werden. Wer heute für seine Überzeugung auf die Straße geht, darf sich nicht mit Sophie Scholl gleichstellen – dazu ist der Unterschied viel zu groß. Ich verstehe, dass gerade Freiheitsenthusiasten, Verweigerer und Protestler eine emotionale Nähe spüren, denn sie ist ein Hoffnungszeichen für Zivilcourage, Empathiefähigkeit und Glaubensmut. Ohne eine distanzierte, rationale Reflektion bleibt es bei einer nur gefühlten Annäherung mit vermindertem Wirklichkeitsbezug.

Gerda Müller: Der Auftrag zur politischen Bildung von Jugendlichen bleibt, um einen antidemokratischen Rechtsruck in Deutschland einzudämmen. Sind Jugendliche für die Widerständlerin Sophie Scholl ansprechbar?

Robert M. Zoske: Ich erzähle in meinem Buch die Geschichte einer jungen Frau, die sich von einer begeisterten Hitleranhängerin zur entschiedenen Widerstandskämpferin wandelt. Ich ermutige, Hans und Sophie Scholl nicht als Legitimation des Bestehenden, sondern als Inspiration für eine bessere, gerechtere Welt zu sehen. Dabei zeige ich, dass der christliche Glaube konstitutiv für ihren Freiheitskampf war. Wenn junge Menschen sehen, dass dieser Glaube Sophie Scholl Kraft gab, ihrem eigenen Gewissen – und nicht fremder Parolen – zu folgen und wenn sie das dann auch machen, ist schon viel erreicht. 

Die Autorenlesung mit Robert M. Zoske aus „Es reut mich nichts“ am 05. Juli 2021 findet ab 10 Uhr im treffpunkt 50plus, Rotebühlstraße 28, in Stuttgart statt und wird außerdem per Zoom übertragen. Der treffpunkt 50plus freut sich über Ihre Anmeldung bis 1. Juli unter info-tps@ev-akademie-boll.de.

Theologin Gerda Müller ist Studienleiterin im treffpunkt 50plus. Der treffpunkt 50plus in Stuttgart ist die erste Adresse für Bildungs- und Kulturarbeit mit älteren und für ältere Menschen.

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