Nach gut zwei Monaten Stillstand starten wieder viele bisher heruntergefahrene Bereiche der Wirtschaft. Besonders der Handel erhofft sich in diesen Wochen einen Neustart mit vielen Kunden und Umsätzen. Aber die Geschäfte laufen eher schleppend an, wie berichtet wird. Wie könnte es auch anders sein? Das Virus ist weltweit unterwegs. Daher bleiben Sorgen und Ängste um die Gesundheit. Die Corona-Pandemie bestimmt weiter das Geschehen. Wer ist da schon in Konsumlaune? Wir müssen jetzt Wege in der Gefahr gehen. Es gibt keine schnellen Auswege. Auch das Verdrängen von Realitäten wäre eine schlechte Option. Es mag pathetisch klingen, aber jetzt brauchen alle Menschen dieser Erde viel Zuversicht und Geduld.
Die politischen Entscheidungen zum Schutz der Bevölkerungen haben weltweit zu einem weitgehenden Stillstand des Geschäftslebens geführt. Aus der daraus folgenden wirtschaftlichen Rezession werden die meisten Volkswirtschaften nur langsam wieder herauskommen. Zumal es jetzt um eine Art Koexistenz mit dem Corona-Virus geht: In der absehbaren Zukunft gilt es mit der Corona-Pandemie im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Alltag zu leben. In dieser neuen Phase bleiben die Schutzmaßnahmen von den Abstandsregeln bis zur Alltagsmaske tägliche Gewohnheit.
Nicht alle Branchen der deutschen Wirtschaft waren vom Stillstand betroffen. Das Handwerk hat zum größten Teil weitergearbeitet. Auch die Industriebetriebe hatten, trotz geschlossener EU-Grenzen und teilweise unterbrochener internationaler Logistik, weiter produziert. Die globale Vernetzung der Weltwirtschaft hat Licht und Schatten gezeigt und macht besonders die weltweite Industrieproduktion sehr abhängig untereinander. In Deutschland wurde Beschäftigten und Geschäftsleitungen in der Krise durch Kurzarbeitergeld und staatlich garantierte Sonderkredite vor drastischen Entlassungswellen geholfen. Jetzt versuchen alle wieder durchzustarten, auch die Gaststätten und Hotels können in den Wochen vor Pfingsten wieder öffnen. Der Reise- und Urlaubssektor hingegen wird weiter warten müssen. Ein Normalbetrieb wird es hier noch längere Zeit nicht geben.
Mit einigen Unternehmerinnen und Unternehmern aus der Industrie hatte ich in den vergangenen Wochen telefonisch Kontakt. Alle haben sich als Krisenmanager betätigt. Sie haben Abstandsregelungen und andere Vorsichtsmaßnahmen in die Betriebsabläufe integriert. Viele Beschäftigte der Verwaltung waren im Home-Office und das Geschäftsleben wurde über Video-Konferenzen organisiert. Ich habe bei meinen Telefonaten viel Positives gehört: „Die Mitarbeiter haben bei den hygienebedingten Umstellungen super mitgemacht.“ Manche zeigten einen nüchternen Realismus: „Der Automobilbau war auch vorher schon in einer Strukturkrise.“ Nicht zu überhören waren auch pessimistische Töne, besonders bei Unternehmern, die weltweit Standorte haben: „Die Lage in Indien, Russland und den USA ist dramatisch.“ Es wird von den international tätigen Geschäftsführern nicht nur von einer kurzfristigen Rezession gesprochen, sondern von einer tiefen Weltwirtschaftskrise, bei der es mindestens bis ins Jahr 2022 dauert, bis sich die globalen Abläufe und Umsätze wieder normalisieren.
Die verschiedenen Sektoren der Wirtschaft sind in unterschiedlichen Ausgangslagen. Für viele Einzelhändler oder Dienstleister fehlen die entgangenen Umsätze vom März und April schmerzlich. Ihnen mangelt es aktuell vielfach an der erforderlichen Liquidität, das heißt, das nötige verfügbare Geld, um ihr Geschäft halten zu können. Es ist zu befürchten, dass es in diesem Jahr noch zu einer Häufung von Insolvenzen kommt. Viele Geschäfte müssen sicherlich auch Personal entlassen, trotz aller Hilfen des Staates. Denn wer Kredite aufnimmt, der muss sie irgendwann auch zurückzahlen. Daher steigt die Anspannung, wenn jetzt trotz aller Lockerungen die Kunden nur das Nötigste kaufen und die Konsumlaune wenig ausgeprägt bleibt.
„Viele Verbraucher wollen ihr Verhalten im Alltag aufgrund der Corona-Krise ändern“, zeigt eine Umfrage des Marktforschungsinstituts McKinsey, von der ich gelesen habe. Anscheinend wollen die Menschen künftig weniger ins Kino oder in Konzerte gehen, seltener reisen und weniger häufig die öffentlichen Verkehrsmittel nützen. Sie wollen dagegen häufiger zu Fuß gehen, das Fahrrad nehmen und wieder mehr das eigene Auto verwenden.
Die Corona-Pandemie hat Folgen für die Unternehmen und ihre Märkte. Wo bleibt in diesem Krisenszenarium die EU? In ihrem Leitartikel, „Gerät die EU in der Corona-Krise ins Hintertreffen?“, schreibt die Leiterin des Büros der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Brüssel, Katrin Hatzinger, dass die größte Herausforderung für die EU-Politik der Umgang mit den massiven wirtschaftlichen Folgen der weltweiten Rezession durch die Corona-Pandemie sein werde. Sie stellt in ihren Leitartikel die Frage: „Wann, wenn nicht jetzt, ist die Stunde Europas?“
Die Oberkirchenrätin der EKD Hatzinger verweist in den Europa-Informationen Nr. 163, Mai 2020 auf die deutsche Bundeskanzlerin und deren Podcast vom 25. April 2020, in welchem Angela Merkel davon spricht, dass die deutsche Ratspräsidentschaft von der Bekämpfung der Pandemie geprägt sein werde. Wichtig blieben für die gemeinsame EU-Politik die Zukunftsthemen Klima und Umwelt. Hatzinger informiert: Die EU habe das Ziel bis 2050 in ihren Gesellschaften klimaneutral zu werden. Als Teilziel solle es bis 2030 zu einer Verringerung der Treibhausgas-Emissionen um 50 bis 55 Prozent gegenüber 1990 kommen, so die Pläne der EU-Kommission. Solche Perspektiven einer zukunftsfähigen Politik, jenseits aller Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, sind wichtig und gut. Gleichzeitig sollten sich alle bewusst machen, dass die Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft, und dazu gehört jede und jeder von uns auch, jetzt und in Zukunft tatsächlich viel Zuversicht und Geduld brauchen werden. „Europa erlebt einen wirtschaftlichen Schock, der seit der Großen Depression ohne Beispiel ist“, sagt der EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Er erwartet einen Rückgang der Wirtschaft im EU-Raum um bis zu 7,7 Prozent in diesem Jahr. Für Deutschland erwartet er in diesem Jahr einen Absturz des Bruttoinlandsprodukts von 6,5 Prozent und für kommendes Jahr einen Aufschwung von 5,9 Prozent.
Ich denke, was jetzt auf Wirtschaft und Gesellschaft zukommt, gleicht eher einem Crosslauf durch unebenes Gelände als einem Mittelstreckenlauf oder einem Stadtmarathon auf asphaltierten Straßen. Die Kurzarbeit wird weiter nötig sein. Beschäftigte und Geschäftsleitungen brauchen Vertrauen zueinander. Die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften wird in Krisenzeiten nötiger denn je gebraucht. Eine umsichtige Wirtschafts- und Sozialpolitik kann auf Landes- und Bundesebene stabilisieren und einen guten Rahmen bilden. Andere Politikfelder, wie eine zukunftsfähige Umwelt- und Klimapolitik sowie der Kontext der EU, werden sehr viel wichtiger werden, schon wegen des Kräftegefälles unter den Staaten der EU. Starke Schultern sind nötig, um schwache Schultern zu unterstützen. Demokratische Diskurse sind in solchen Krisenzeiten auf allen Ebenen dringend erforderlich. Menschen wollen mitdenken, mitreden und mitgestalten.
Für dieses Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung bietet die soziale Marktwirtschaft eine zukunftsfähige Rahmenordnung durch ihre dezentrale Verantwortungsstruktur. Das heißt: Zur unternehmerischen Freiheit gehört die Bereitschaft zur Verantwortung. Das bedeutet für die Unternehmer, Risiken anzunehmen und für Entscheidungen zu haften, aber mit allen Stakeholdern auch gemeinsam über den Tag hinauszudenken. Nicht alle werden dabei Erfolg haben. Betriebe werden in Folge dieser Corona-Krise auch aufgeben und schließen müssen. Dies ist die bittere Kehrseite für alle Beteiligte. Die Arbeitslosigkeit wird ansteigen. Hier muss der Sozialstaat zeigen, dass er Arbeitnehmern helfen kann. Denn Wirtschaft und demokratischer Staat sind verpflichtet, den Menschen zu dienen. Da aber die Natur auch Schutz und Hilfe braucht, bietet diese Krise auch eine Chance zur Neuausrichtung in Sachen Umweltpolitik, Klimaschutz und Ressourcenverbrauch.
In dem Aufruf „Zukunftsfähiger Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Lock Down“ des Umweltbeauftragten für den Rat der EKD, Prof. Dr. Hans Diefenbacher, und weiteren Forschern der FEST (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V.) aus Heidelberg, heißt es daher zurecht: „Die Normalität, zu der wir zurückkehren, sollte aus unserer Sicht eine andere sein als vor der Coronakrise. Wir sollten prüfen, wie eine Wirtschaft der Zukunft aussieht, die ein menschenwürdiges Leben für alle gewährleistet – auch für künftige Generationen – ohne die natürlichen Ressourcen weiter zu schädigen.“
Karl-Ulrich Gscheidle ist Wirtschafts- und Sozialpfarrer beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) in Reutlingen. Der KDA ist ein Fachdienst der Evangelischen Akademie Bad Boll in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.