Nicht einmal im vergangenen Jahr, als das Grundgesetz am 23. Mai 2019 70 Jahre alt wurde, hatte es so viele lautstarke Anhänger wie in diesen Tagen. Gegen die angeblich überzogenen staatlichen Corona-Maßnahmen und für die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte gehen – nach ihrer eigenen Auskunft – die Menschen auf die Straße. Machen mit bei der „Hygienedemo“ in Berlin, der „Grundrechte“-Demo in München oder beteiligen sich bei „Querdenken 711“ in Stuttgart.
Viele der Demonstrantinnen und Demonstranten haben gute Gründe für ihre Sorgen und sind durch den Lockdown der vergangenen Wochen in reale und existentielle Nöte geraten. Selbstständige Künstler_innen, Betreiber von Fitnessstudios und Gaststätten, Ladeninhaber_innen. Um nur einige zu nennen. Angst vor Arbeitslosigkeit herrscht nicht ohne Grund: Das Kurzarbeitergeld ist kein volles Gehalt und die Herausforderung, Kinderbetreuung, Fernunterricht und Homeoffice unter einen Hut zu bekommen, zerrt an den Nerven. Die Kontaktverbote sind bitter. Vor allem dort, wo es Alleinlebende und Menschen in Pflegeheimen betrifft.
Das sind gewaltige Einschränkungen. Niemand bezweifelt das. Der Ruf nach schnellen Lockerungen ist verständlich. Ob er jedoch zu früh kommt, das allerdings wird man erst noch sehen müssen. Denn die schnelle Verordnung dieser Maßnahmen war wohl einfach unumgänglich. Wer hier behauptet, es sei alles maßlos gewesen, viel zu schnell gegangen, ohne sich die Zeit für eine gründliche Debatte zu nehmen, der muss die Bilder aus Bergamo und New York, Manaus und Guayaquil schlicht verdrängt haben. Wer auf die aktuell sinkenden Infektionsraten verweist, die doch die Rückkehr zur Normalität möglich machen sollten, der erliegt dem Präventionsparadox und handelt wie der Fallschirmspringer, der nach geglückter Landung nun meint, es wäre womöglich auch ohne den Schirm gut gegangen.
Wie dem auch sei. Eine bloße Diffamierung besorgter Demonstrantinnen und Demonstranten ist unangebracht.
Allerdings ist inzwischen offenkundig, wie diese Demonstrationen von den Verächtern des Grundgesetzes und der Demokratie aus dem rechtsextremen Spektrum zu deren Plattform gemacht werden. Wenn alle möglichen Verschwörungsmärchenerzähler dort als Redner geladen sind und ihre kruden „Wahrheiten“ verkünden.
Einen guten Einblick in die Art und Weise, wie mit Verschwörungsmärchen die komplexe Gegenwart simplifiziert wird, bekommt man auf dem Youtube-Kanal des Dr. Wolfgang Gedeon, (sic!) MdL. Am 5. Mai lässt er sich filmen bei seiner knapp 45-minütigen „Vorlesung“: „Geopolitik und Weltverschwörung“. Er sitzt in der Pose des nachdenklichen intellektuellen Welterklärers vor der Kamera. Trägt ein schwarzes Hemd zum Jackett. Spielt mit Stift und Brille und schwadroniert über die wahren Ursachen der Corona-Pandemie: „Corona ist schon ein Projekt der westlichen Globalisten, gerichtet… vor allem gegen Deutschland, … gegen Russland.“ Diese Globalisten repräsentieren den „totalitären Individualismus“ wie er sich z.B. im Genderwahn zeigt und er hat das „Bestreben, die Menschheit totalitär zu unterjochen, einen totalen Überwachungsstaat aufzubauen mit implantierten RFID-Chips, das Bargeld abzuschaffen“. Weil die Chinesen dem Westen in Bezug auf einen totalitären Überwachungsstaat voraus seien, darum will dieser nun mit Corona aufholen. Gestützt auf das „Merkel-Regime“ werden als Akteure dieser Weltherrschaftspläne benannt: Banken und Kommunisten, die Wallstreet, die Roosevelts, die Rothschilds, die Warburgs.
Schon längst bevor die beiden letzten Namen fielen ist klar: Hier handelt es sich um ein antisemitisches Narrativ, das mit den altbekannten Wahnvorstellungen von der „jüdischen Weltherrschaft“ daherkommt und seit 2000 Jahren für jede Krise den Schuldigen benennen kann: die Juden, „die Weisen von Zion“, bzw. heute auch gerne: den Staat Israel, den Zionismus, jüdische Banker. Hier wird bewusst und gezielt mit den ideologischen Versatzstücken des völkischen Antisemitismus gearbeitet. Die vermeintlich unnatürlich transnational agierenden Juden gegen die natürlichen Nationen, die Eliten gegen das brave Volk, der zersetzende Individualismus gegen das Kollektiv einer Volksgemeinschaft, und so weiter und so fort.
Dass es diese völkische Ideologie war, mit der die deutschen Mörder die Vernichtung der Juden begründet haben, ist bekannt. Dass diese Ideologie heute noch verbreitet werden kann, ist ein Skandal. Und dass sie nun auch laut werden kann bei manchen Protagonisten der Corona-Demos, ist ärgerlich. Dass auf diesen Demonstrationen auch Impfgegner_innen und besorgte Bürger_innen solchen Märchen applaudieren, macht traurig und lässt befürchten, dass die Akzeptanz solcher kruden Reden in der Mitte der Gesellschaft wächst.
Fassungslos aber macht es, dass selbst Eliten gesellschaftlicher Gruppen solche rüden Erzählmuster befeuern, wenn einige katholische Bischöfe in einem Aufruf die globale Corona-Bekämpfung als ein undurchschaubares „Vorspiel zur Schaffung einer Weltregierung“ bezeichnen – unter ihnen mit Gerhard Ludwig Kardinal Müller auch ein ehemaliger Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre. Wer hinter diesem Vorspiel steht, wird nicht gesagt. Der Antisemit hört und weiß es trotzdem. Das ist das fatale an dieser Ideologie des Antisemitismus.
Es mag psychologisch nachvollziehbar sein, dass vereinfachende Erklärungen „guttun“ in einer überkomplexen Welt, in der Verunsicherung durch deren Unübersichtlichkeit und nun auch noch durch ein unsichtbares neues Virus. Doch letzten Endes sind solche mitgeteilten und dann im Netz und am Stammtisch geteilten Verschwörungsmärchen Fakes mit der Tendenz, zu kollektiven Wahnvorstellungen zu werden. Und spätestens dann sind solche antisemitisch getönten Verschwörungsmärchen eine echte Gefahr für die Demokratie. Sie machen einen vernünftigen und lösungsorientierten gesellschaftlichen Diskurs unmöglich. Das wäre dann nicht nur eine Zumutung für die Demokratie, sondern deren Ende.
Die Einschränkungen von Freiheiten und der Wahrnehmung von Grundrechten im Zuge der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus waren wohl eine Zumutung auch für die Demokratie. Aber zumindest hierzulande – anders als z.B. in Ungarn – keine echte Gefahr für die Demokratie.
Es ist wahrscheinlich eine gewisse Gesetzmäßigkeit, dass in Krisenzeiten die Exekutive Befugnisse und Kompetenzen an sich zieht, weil rasches Handeln gefordert ist.
Rasch gehandelt hat der Staat auch mit den Soforthilfen wie bei der Rückholaktion. Wer sonst hätte diesen finanziellen und organisatorischen Kraftakt bewerkstelligen können? Hier war das schnelle Handeln der Exekutive auch höchst willkommen.
Rasch handeln aber musste dieser Staat eben auch bei den – auf den Demos nun scharf kritisierten – Kontaktverboten, den Schließungen von Schulen, Kitas, Kneipen und Läden. Und so haben die Landesregierungen auf der Grundlage des parlamentarisch verabschiedeten Infektionsschutzgesetzes des Bundes mit Verordnungen die Wahrnehmung der Freiheitsrechte zeitlich befristet eingeschränkt. Aber diese Grundrechte wurden mitnichten abgeschafft. Das ist ein Unterschied, den die „Grundrechte-Demos“ gerne verwischen.
Zudem hat die Gewaltenteilung des demokratischen Staates weiterhin funktioniert. Die Judikative wurde sofort mit den Corona-Maßnahmen beschäftigt. Die Verwaltungsgerichte wie das Bundesverfassungsgericht wurden wegen der Verordnungen bzw. den Verboten ja postwendend angerufen. Die Gerichte haben die Klagen angenommen, verhandelt und entschieden. Zugegeben, meist in Eilverfahren. Aber die Verordnungen und Verbote wurden mitnichten „nur“ sanktioniert und durchgewunken. Das Verbot der ersten Demonstration gegen die Einschränkungen in Stuttgart wurde vom Bundesverfassungsgericht mit Verweis auf die Versammlungsfreiheit unverzüglich aufgehoben. Die Demo konnte stattfinden.
Klagen wegen der Quarantänebestimmungen wurden stattgegeben. Und der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof wies zwar eine Klage wegen der Schließung eines Betriebes am 9. April ab. Erinnerte in seinem Urteil die Landesregierung aber zugleich an den Parlamentsvorbehalt.
Doch die Legislative, die Parlamente waren nie ausgeschaltet. Sie tagten, debattierten und beschlossen. So bekam das exekutive Handeln der Bundesregierung mit der Verabschiedung einer Novellierung des Infektionsschutzgesetzes durch den Bundestag am 25. März, in dem er eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ feststellte, eine parlamentarische Bestätigung.
Als Fazit lässt sich somit festhalten, dass zum einen die Gewaltenteilung im demokratischen Rechtsstaat in dieser Krise funktioniert hat und dass zum anderen die Wahrnehmung der Grundrechte für eine befristete Zeit zwar ziemlich eingeschränkt wurde, aber nicht aufgehoben. Religions-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sind nach wie vor Grundlage unseres Zusammenlebens. Aber derzeit eben nicht der Besuch von Volksfesten oder des eigenen Ferienhauses auf Sylt.
Ebenfalls hat die vierte Gewalt funktioniert. Presse und Rundfunk haben mitnichten als „Systemmedien“ agiert. Vielmehr wurden alle Maßnahmen der Regierung kritisch begleitet und kontrovers diskutiert. Höchst unterschiedliche Aussagen der omnipräsenten Virolog_innen wurden vorgestellt und kritisiert. Von Anfang an waren Debatten über die sozialen wie die ökonomischen Folgen der Schließungen und der Kontaktsperren im Gang. Gestritten wurde um die Fragen zu den Folgen der Corona-Krise für Demokratie, Föderalismus und Freiheitsrechte, für Europa und die Globalisierung, über die Auswirkungen des Digitalisierungsschubes und der vermeintlichen Herrschaft von Expert_innnen und Technokratie. So wurde die sicherlich nicht immer ganz kohärente Krisenstrategie der Regierung immer wieder hinterfragt. Dass diese dann korrigierte und nachjustierte, Masken zunächst für überflüssig, dann für hilfreich hielt, das war wohl auch eine Folge dieser offenen und freien Debatten. Und wer sollte es den Verantwortlichen verübeln, dass in dieser akuten Krise schlicht auch experimentiert werden musste? Im Umgang mit einer Pandemie, in der die Wissenschaft ständig mit neuen Erkenntnissen aufwartet, kann auch die Politik, die auf solche Expertise hört, nicht immer sagen, was übermorgen der Fall sein wird. Aber besser eine suchende und tastende Kontingenzbewältigung als eine Politik, die sich über jede Expertise erhebt, COVID-19 für so gefährlich wie eine Grippe hält oder das Einnehmen von Desinfektionsmitteln empfiehlt.
Weiterführender als alle einfachen Erklärungen und Verschwörungsphantasien sind in dieser Krise Debattenbeiträge wie der von Wolfgang Schäuble im Interview des Tagesspiegel vom 26. April. Er verweist darauf, dass bei den Diskussionen über die Lockerungen die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Güterabwägung leitend sein müssen. Und macht dann deutlich, dass selbst das Grundrecht des Lebensschutzes in die umfassende Güterabwägung des Staats einbezogen werden darf. Durch das Grundgesetz davon ausgenommen ist allein die Menschenwürde nach Art. 1 GG.
Die Menschenwürde aller Menschen – nicht nur der Deutschen – ist im Staat des Grundgesetzes ein absoluter Wert. Alle übrigen Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Dem pflichtete der Frankfurter Rechtsphilosoph Klaus Günther im Gespräch mit Jürgen Habermas in der ZEIT vom 7. Mai bei. Denn er bestätigt, dass sich im Aushandeln der Verhältnismäßigkeit bei den Corona-Maßnahmen „sich mit Ausnahme der in Artikel 1 GG genannten Menschenwürde alle Grundrechte wechselseitig relativieren ließen“.
Es ist klar, dass die Menschenwürde nur dort geachtet werden kann, wo neben der Würde auch das Leben unantastbar und darum zu schützen ist. Damit ist man mitten drin in einer kontroversen Debatte über eine unbedingte Pflicht des Staates, Leben zu schützen. Diese Verpflichtung kann sich berufen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Luftsicherheitsgesetz von 2005, in dem es dieses Gesetz als in Teilen verfassungswidrig aufhob, da das „menschliche Leben… die vitale Basis der Menschenwürde (ist)“ und sich für den Staat daraus die Pflicht ergebe, „jedes menschliche Leben zu schützen“.
Solche Debatten sind zu führe: kontrovers, mit vernünftigen Argumenten, mit wissenschaftlichen Expertisen und mit Verstand. Aber ohne Fakes und ohne Verschwörungsmärchen, ohne Versatzstücke antisemitischer Narrative und ohne ständig nach dem einen Schuldigen zu suchen für eine Krise, die man nicht verstehen will. Solche Beiträge spalten nur, führen aber nicht zum herrschaftsfreien Diskurs, von dem Demokratie lebt.
Für solche Debatten braucht es Orte wie die Akademie. Und hoffentlich sind dort solche Debatten bald wieder möglich. Denn Themen für Debatten, die zu vernünftigen Lösungen der Probleme unserer Zeit führen, die gibt es genug – auch ohne Corona: vom Klimawandel bis zur Zukunft der Demokratie, von Gerechtigkeit und Teilhabe bis hin zum Frieden in der Welt und einer guten Zukunft in einer Gesellschaft der Vielfalt.
Der Theologe Wolfgang Mayer-Ernst ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Gesellschaft, Politik, Staat“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politik und Recht.