Von der Schwierigkeit, Schwäche zu zeigen 

Ein Impuls von Akademiedirektor Dr. Dietmar Merz

Vienna, Austria. 2019-10-23. "Paradise" (1530) by Lucas Cranach the Elder (1472-1553). Kunsthistorisches Museum (Art History Museum) in Vienna. Foto © Adam Jan Figel

„Ich muss mir eingestehen, dass meine Kraft nicht ausreicht“, sagte die Rheinland-Pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer bei ihrem Rücktritt vor wenigen Wochen. Selten sind von öffentlichen Personen, Verantwortungsträgern oder VIPs solche Sätze zu hören. Im harten Business, im politischen Tagesgeschäft und vor allem in der Welt der Medien zählt allein der starke Auftritt. Verletzlichkeit, Begrenzung, Selbstbeschränkung sind nicht gefragt und schaden der Karriere. Schwächen könnten vom Gegner ausgenutzt werden, es gilt unerschütterliche Stärke zu zeigen. Dass einem die Kraft ausgeht, sollte möglichst niemand merken in einer Welt, die von Selbstoptimierung und Reichweitenmaximierung geprägt ist. Umso beeindruckender, wie Malu Dreyer dieses Denk- und Handlungsmuster durchbricht. Aus ihrer Multiple Sklerose-Erkrankung hat die Politikerin kein Geheimnis gemacht. Als sie am Ende ihrer Kraft angelangt war, konnte Malu Dreyer als Ministerpräsidentin im besten Sinne des Wortes „Ab-Danken“: dankbar Macht abgeben und voller Respekt die öffentliche Bühne verlassen – was für ein Unterschied zu allen Machthabern, die nicht loslassen und abtreten können, aus welchen Gründen auch immer. 

Angesichts dieser Größe beschäftigt es mich umso mehr, warum es Malu Dreyer nicht gelungen ist, zu politischen Fehlern in ihrer Amtszeit zu stehen. Die Flutkatastrophe im Ahrtal jährt sich zum dritten Mal. Bis zuletzt gab und gibt es Kritik daran, dass die Ministerpräsidentin sich für die offensichtlichen Versäumnisse der Landesregierung im Krisenmanagement und beim Wiederaufbau nicht entschuldigen konnte oder wollte. Malu Dreyers politisches Wirken für das Land Rheinland-Pfalz hat viele Verdienste. Auch wenn die verschiedenen Lager die Leistung unterschiedlich bewerten – die charismatische Menschlichkeit der Politikerin hat alle beindruckt, Bürgerinnen und Bürger genauso wie politische Freunde und Gegner. Ihre hingebungsvolle und ehrliche Amtsführung zeigt und ermutigt, dass auch Menschen mit schwerer Erkrankung einen geachteten Platz haben können. Malu Dreyer hat es geschafft, Verletzlichkeit und Schwäche zu zeigen, auch wenn es ihrer Karriere hätte schaden können. Schuld einzugestehen, was unter Umständen die Karriere hätte kosten können, dagegen schaffte sie nicht. Vermutlich entsprang dies keinem politischen Kalkül, sondern vielmehr dem versperrten Zugang zu einer uns allen unangenehmen Kategorie: Schuld-Sein will niemand und Schuld-Übernehmen noch viel weniger. Dabei ist theologisch betrachtet Schuld eine Grundbefindlichkeit unseres Menschseins. 

Niemand wird unschuldig geboren. Wir werden alle in Strukturen des Unrechts hineingeboren, in die Ausbeutung der Natur, in die Herrschaft der einen über die anderen. Niemand kommt unschuldig durchs Leben. Wir werden verletzt und verletzen, und erfahren dies am schmerzlichsten ausgerechnet bei Menschen, zu denen wir in engster Beziehung stehen. Und nicht zuletzt: Niemand geht mit weißer Weste aus kniffligen Situationen hervor. Manchmal haben wir nur die Wahl zwischen etwas mehr oder etwas weniger Schaden, den wir mit unseren Entscheidungen verursachen. In Dietrich Bonhoeffers Ethik gehört darum zum verantwortlichen Leben und Handeln unabdingbar die Bereitschaft zur Schuldübernahme hinzu. Nicht als billiger Freibrief, aber als reelle Sicht auf unser Menschsein und unsere damit gegebene Begrenztheit. In diesem Sinne hätte es mich nicht schockiert, sondern noch mehr berührt und mit Respekt erfüllt, wenn die Rheinland-Pfälzische Ministerpräsidentin bei ihrem Rücktritt auch hätte sagen können: „Ich muss mir eingestehen, dass ich in der Wahrnehmung meiner politischen Verantwortung an manchen Stellen schuldig geworden bin“.
 

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