Mehr an Leben

Gedanken zum Tag der Arbeit

Blühende Bäume erinnern an den Überfluss des Lebens, aus dem wir alle schöpfen. Wir wissen aber auch, wie unsicher es ist, ob im Herbst die Verheißung der Blüten zu reicher Ernte führt. Das hängt von vielem ab: zuerst vom Wetter. Aber damit die Früchte auch geerntet werden können, braucht es später viel Arbeitskraft. 

Wenn ich einen solchen Baum betrachte, überwältigt mich die Fülle der Blüten. Die Natur verschwendet sich und fragt nicht nach dem Ergebnis. Denn nur wer viel gibt, kann überhaupt mit Früchten rechnen.

Immer am 1. Mai erinnern die Gewerkschaften an die Fülle der Arbeit, die es braucht, um unsere Wirtschaft am Laufen zu halten. Das bringt der DGB (Deutsche Gewerkschaftsbund) in diesem Jahr auf drei Forderungen: mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit.

Im ökumenischen Gottesdienst zum 1. Mai im Ulmer Münster weiten wir die Gewerkschaftsforderungen aus: Denn es geht um nichts Geringeres, als um ein Mehr an Leben.

Wer von seinem Lohn nicht auskömmlich leben kann und wessen Realeinkommen trotz Gehaltserhöhungen sinkt, wird die erste Forderung sofort unterschreiben. Auch mehr Freizeit ist nötig, die für sich selbst, für gemeinschaftliches und gesellschaftliches Engagement genutzt werden kann. Aber das alles ist nichts, wenn es nicht gelingt, mehr Sicherheit zu erreichen – im persönlichen, gesellschaftlichen und im internationalen Zusammenleben.

Nur so kann ein Mehr an Leben gelingen.

Wie wir das Mehr an Leben gewinnen und es für alle erreichen, darüber muss in unserer Gesellschaft kontinuierlich diskutiert, ja auch gestritten werden. Für diesen Aushandlungsprozess braucht es immer aufs Neue Geduld und Respekt füreinander, keine Frage. Auch daran erinnert der 1. Mai. 

Anders als bei der Baumblüte sind unsere Ressourcen begrenzt. Daher müssen wir kritisch fragen: Ermöglichen unsere Entscheidungen ein Mehr an Leben? Wird das Leben aller, auch der Natur, dadurch vermehrt? Oder Leben wir nur auf Kosten anderer?

Auch bei den Wahlen am 9. Juni wird über diese Fragen zu entscheiden sein, im Bereich der Kommunen oder im Europa-Parlament, als Wählerin und Wähler oder auch als Kandidatin und Kandidat. Und auch Dialogveranstaltungen wie an der Evangelischen Akademie Bad Boll können Orte der Debatte über das Mehr an Leben sein.

Das Mehr an Lebensmöglichkeiten für alle, das wollen wir als Christinnen und Christen erreichen, auch gemeinsam mit vielen anderen Akteuren der Zivilgesellschaft. Am 1. Mai verbinden wir uns besonders mit den Gewerkschaften und allen, die mit oder ohne Lohn für andere Arbeiten. Dabei bringen wir auch die Stimmen zu Gehör, die oft überhört werden, deren Sicht vergessen wird.

Gott behält seinen Reichtum nicht für sich, sondern teilt sich uns mit: „Ich bin gekommen, damit Ihr das Leben in Fülle habt“ (vgl. u.a. Joh. 10,10). Das nicht für uns zu behalten, sondern ebenfalls mitzuteilen, dazu werden wir befähigt und aufgefordert. Das ist für uns Ermutigung für unser Engagement in der Gesellschaft.
Auf seine Weise macht uns auch der Überfluss an Blüten aufmerksam: Wie schön das Mehr an Leben ist und wie viel es von uns braucht, um es für alle greif- und fühlbar zu machen.


Seit 2016 ist Albrecht Knoch Wirtschafts- und Sozialpfarrer beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) in Ulm. Der KDA ist ein Fachdienst der Evangelischen Landeskirche in Württemberg an der Evangelischen Akademie Bad Boll.
 

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