In der Erinnerung an die persönlichen und fragmentarischen Gedanken, die ich vor einem Jahr am Abend nach dem russischen Angriff auf die Ukraine aufgeschrieben habe, ist auch heute dieses Erschrecken vom Morgen des 24. Februar 2022 schnell wieder da.
Ja, womöglich ist das Erschrecken über das, was damals begann, was immer noch andauert und für das noch kein Ende absehbar ist, heute sogar noch größer als damals.
Denn, das mochte ich an diesem Morgen nicht einmal ahnen: dass dieser Krieg über ein Jahr dauern wird. Dass dieser Krieg mit einer erschreckenden Brutalität geführt wird. Mit viel zu vielen Toten, mit unfassbaren Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung in der Ukraine. Mit einer Zerstörungswut, die auch vor Wohnhäusern, Kulturstätten und der zivilen Infrastruktur nicht Halt machen will. Mit Butscha, Irpin und Hostomel hat das Grauen in diesem Jahr neue Namen erhalten.
Immer noch ist Krieg also die böse Realität. Mitten in Europa.
Eine Realität, mit der die Menschen in der Ukraine auf brutale Art und Weise konfrontiert sind.
Eine Realität, mit der auch wir leben müssen.
Leben nach der „Zeitenwende“.
Und diese „Zeitenwende“ erfordert offenkundig auch ein neues Nachdenken. Bedeutet ein Abschiednehmen auch von liebgewordenen Positionen. Ein neues Nachdenken über Sicherheitspolitik wurde in Gang gesetzt. Plötzlich sind Pumas und Leoparden uns nicht mehr nur als Großkatzen aus dem Zoo bekannt. Schnell auch sind Tabus gefallen. Auch aus Deutschland werden Waffen nun in Kriegsgebiet geliefert. Und das leider aus gutem Grund. Über friedensethische Positionen musste neu nachgedacht werden. Auch wenn es immer noch stimmt, dass Waffen keinen Frieden schaffen. So stimmt es doch auch, dass Gewalt kein Erfolgsmodell sein darf, das den Gewalttäter zu weiteren Kriegen ermutigen könnte.
Wobei ich zugeben muss, dass ich immer wieder merke, wie schwer es mir fällt, diese neue Realität zu akzeptieren.
Natürlich kann es nicht sein, dass wir den Menschen in der Ukraine die nötige Unterstützung verweigern. Aber es darf auch nicht sein, dass die Stimmen, die diplomatische Lösungen anmahnen nur noch lächerlich gemacht werden.
Es darf nicht sein, dass nun alles Russische verdammt wird. Ich habe volles Verständnis dafür, dass in ukrainischen Städten Puschkin-Denkmäler abgerissen werden. Aber muss das, wie einige fordern, auch in Weimar sein?
Die Ukraine wird auch in Zukunft Russland zum Nachbarn haben. In einer hoffentlich nicht fernen Zukunft, in der eine hoffentlich freie, souveräne und demokratische Ukraine wieder Beziehungen zu diesem Nachbarn knüpfen kann.
Und auch wir werden in dieser Zukunft dann mit Russland auf diesem Kontinent wieder Beziehungen aufbauen. Das sollten wir nicht ganz aus dem Blick verlieren.
Lernen musste ich in diesem Jahr nach der „Zeitenwende“ auch eine ganze Menge. Musste einsehen, dass ich in Bezug auf das Ausmaß autoritärer Machstrukturen in Putins Russland wohl zu naiv war. Musste einsehen, dass es kaum möglich ist, auf zivilgesellschaftlichen Protest gegen diesen Krieg in Russland zu setzen, wenn mit brutalen Polizeistaatmethoden jeder Widerstand gebrochen wird.
Viel zu lernen gab es auch über die Ukraine. Dass sich dort seit 2014 einiges getan hat. Sich eine aktive und demokratische Zivilgesellschaft entwickelt hat, die nicht nur nach Europa möchte, sondern zu Europa gehört.
Dass es anders als bis 2014 nicht mehr Mainstream in der Ukraine ist, die Unabhängigkeit mit einem ethnischen Nationalismus zu begründen. Sondern dass die Menschen in der Ukraine entdeckt haben, wie gerade die Vielfalt an Sprachen, Kulturen und Religionen den Reichtum und die Eigenart der Ukraine ausmachen. Dass das politische Leben in der Ukraine nicht nur von Oligarchen und einer extrem nationalistischen Ideologie dominiert wird, sondern der Wille zu einer freien Gesellschaft der Vielfalt und Weltoffenheit mächtig ist – und den Autokraten in Russland ein Ärgernis.
Und dann musste ich und muss noch so manche bittere Enttäuschung verarbeiten. Dass es auch im 21. Jahrhundert eine Kirche gibt, die einen Angriffskrieg als gottgewollt bezeichnet, die Waffen segnet und dem Gegenüber jede Anerkennung verweigert.
Aber auch, wie schnell bei uns dieser Krieg in den Hintergrund treten kann, wenn geraten wird, die Heizungen etwas weniger weit aufzudrehen. Da scheinen die Menschen in der Ukraine für uns plötzlich ganz weit weg zu sein und das mollig warme Wohnzimmer viel wichtiger als alles andere.
Ein Jahr Krieg in der Ukraine. Ein Jahr Krieg mitten in Europa.
Und kein Ende in Sicht.
Das sind keine schönen Zeiten – und wir werden weiterhin viel nachzudenken, zu diskutieren und zu tun haben. Die Menschen in und aus der Ukraine unterstützen – wohl auch mit solcher Unterstützung, die uns noch vor Jahresfrist undenkbar schien.
Und dennoch alles versuchen, weitere Eskalationen zu verhindern.
Aber all dies nicht an grünen Tischen und an den viralen Stammtischen.
Sondern im Austausch und im Hören auf die Menschen aus der Ukraine.
Dem Land, das uns in den vergangenen 12 Monaten näher gekommen ist als je gedacht.
Dem Land, dem wir schon viel früher mehr Aufmerksamkeit hätten schenken müssen.
Der Theologe Wolfgang Mayer-Ernst ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Gesellschaft, Politik, Staat“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politik und Recht.