Demokratiefähigkeit in der Krise

Zur politischen Jugendbildung (nicht nur) in Zeiten von Corona-Infektionsschutzmaßnahmen

© Andreas Germann/ Talent im Land

Krisenzeiten sind Regierungszeiten und – offensichtlich auch – gute Zeiten für Verschwörungstheorien. Was macht Verschwörungskonstrukte so attraktiv und vor allem: Wie kann man ihnen zuvorkommen oder ihnen entgegentreten. Wie kann die Resilienz gegen Verschwörungsdenken gestärkt werden?

In der politischen Bildung wird seit einiger Zeit die Bedeutung der Emotionen für die politische Bildung in den Blick genommen. Sie wurde lange unterschätzt, und es wurde auf eine fast rein kognitive politische Bildung gesetzt, die ihren Schwerpunkt auf die Vermittlung von Wissen legt.

Die Vermittlung von historischem und politischem Faktenwissen ist unbestritten sehr wichtig. Was jedoch essentiell ist, ist die Herzens- oder Menschenbildung, durch die ein Kind grundlegende psychische und soziale Kompetenzen erlangt. Diese sind für ein demokratisches Miteinander unabdingbar:

  • Empathie, die Fähigkeit unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, sich in sie einzudenken und einzufühlen,
  • Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit unangenehme Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen zu verstehen und auszuhalten,
  • Frustrationstoleranz, die Begrenztheit anderer und die eigene Begrenztheit anerkennen u. v. a. m.

Auf Basis dieser grundlegenden Kompetenzen können weitere Qualitäten entstehen wie Rücksicht, Gemeinschaftssinn, Toleranz, die Fähigkeit, Konflikte angemessen und konstruktiv zu lösen, eine friedliche zielführende Gesprächskultur, Verantwortungsübernahme für sich und andere sowie sich eine eigene Meinung bilden und diese formulieren können.

Kurz: Es geht bei der politischen Bildung ganz wesentlich auch um Befähigung.

Im Rahmen unserer Tagung „Demokratinnen und Demokraten fallen nicht vom Himmel – Förderung von Demokratiefähigkeit bei Kindern und Jugendlichen“ haben wir uns intensiv mit der Frage auseinander gesetzt, was Demokratie-Kompetenzen sind und wie diese in der frühkindlichen, außerschulischen und schulischen Bildung gezielter gefördert werden können (Eine ausführliche Online-Dokumentation finden Sie hier. Bei der Tagung „Bildung für eine starke Demokratie“ tauschten sich Pädagog_innen aus, die im Schnittfeld zwischen schulischer und außerschulischer Bildung neue Ansätze der Demokratiebildung erproben.

Ein „Mehr“ an politischer Beteiligung wird das Problem der Politiker_innenverdrossenheit der jüngeren Generationen nur teilweise lösen können. (Nicht: Politikverdrossenheit! Das politische Interesse von Jugendlichen ist laut der aktuellen Shell Jugendstudie ungebrochen, aber das Vertrauen in Politiker_innen, in die verfasste Politik und die Lust sich dort einzubringen, wurde geringer.) Es braucht daneben auch ein „Mehr“ an „Demokratie-Aushalten-Können“. Das heißt aushalten, dass Sachlagen, Interessenabwägung und Entscheidungen so komplex sind, dass eine Beteiligung oder gar eine direkte Abstimmung nur in begrenztem Ausmaß möglich ist. Das bedeutet aber auch aushalten, dass es Delegationen gibt und ein Stück weit Vertrauen-Können in diese Delegationen, bei begründetem Misstrauen Wege und Möglichkeiten finden, die eigenen Interessen einzubringen und artikulieren können. Und auszuhalten, dass man selbst nicht überall mitreden kann und dass Beteiligung auch nicht bedeutet, dass der eigene Wille, das eigene Bedürfnis eins zu eins umgesetzt wird, andere Meinungen aushalten – eigentlich schlicht: Das Andere und damit auch die eigene Begrenztheit aushalten.

Es ist unbestritten, dass es durchaus Anlass zu Verdruss und Misstrauen gibt, dass es Lobbyismus gibt, dass die aktuelle Repräsentation in den Parlamenten keine perfekte ist, weil sie nicht der Vielfalt in der Bevölkerung entspricht. Der durchschnittliche Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg ist männlich, 56 Jahre alt und Akademiker. Aber hier soll auch eine Lanze für die Politiker_innen gebrochen werden: Die Gegebenheiten sind zum Teil enorm komplex, einfache und vor allem schnelle Lösungen bei Weitem nicht bei jeder politischen Frage zu erreichen.

Der Bedarf an Demokratiebildung wird durch die Krise nicht größer, sondern deutlicher. Träger der politischen Bildung geraten ins Blickfeld und werden mit Anforderungen konfrontiert. Sie sollen „es“ wuppen. Was in Jahren der politischen Bildung nicht zu schaffen war, soll nun – am besten mit Hilfe digitaler Formate – schnell eingeholt werden.

Ein paar Gedanken hierzu

Die politische Bildung braucht einen langen, unaufgeregten Atem. Und sie braucht – wie Herman Nohl 1924 bereits festgestellt hat – ganz wesentlich auch die Beziehung zwischen Mensch und Mensch, zwischen Pädagog_in und Kind bzw. Jugendlich_er. Diese Beziehung ist Voraussetzung dafür, dass ein so genannter Pädagogischer Bezug entstehen kann. Und dieser Pädagogische Bezug wiederum ist Voraussetzung für eine einigermaßen gelingende Erziehung.

Nohl (1879 bis 1960) war Philosoph und Pädagoge und gilt als Mitbegründer der Sozialpädagogik. Er betonte die emotionale Komponente im Verhältnis zwischen Pädagog_in und Jugendlich_er – und bezeichnete die Emotion als wesentlich für die Erziehung und Bildung.

Nach Nohl darf Erziehung und Bildung keine externen Ziele und Zwecke haben. Eine Vereinnahmung von Seiten der Gesellschaft und des Staates gegenüber der Pädagogik und gegenüber Kindern und Heranwachsenden lehnte er ab. Erziehung und Bildung solle das Selbst des Kindes im Blick haben, seine Probleme, seine Befindlichkeiten, seinen Bildungswillen und seine Lernbedürfnisse. So entstehe beim Kind anstatt Gehorsam: Selbständigkeit und Aktivität – im besten Falle eine „sittliche Autonomie“, die sowohl am Selbst- als auch am Gemeinwohl orientiert sei.  

Inwiefern darf politische Bildung ein (politisches) Ziel haben?

Der 1976 für den Politikunterricht in der Schule vereinbarte Beutelsbacher Konsens ist auch für die politische Bildung ein wichtiger Bezugsrahmen. Sie orientiert sich mit ihren fachlichen Prinzipien daran. Es gilt das Überwältigungs- oder auch Indoktrinationsverbot. Das heißt nicht, dass der/ die Pädagog_in politisch neutral sein muss. Der/ die Pädagog_in sollte ein Thema vielmehr differenziert und kontrovers darstellen (Kontroversitätsgebot), und die Schüler_innen sollen dazu befähigt werden, politische Situationen und ihre eigenen Interessen zu analysieren.

Das Ziel der politischen Bildung ist, dass die Schüler_innen die Mündigkeit als Bürger_in erlangen.

Analog versus digital? – Analog und digital! Oder: Der Geist, einmal aus der Flasche gelassen…

Die Infektionsschutzmaßnahmen haben den digitalen Kommunikationsformen mächtig Vorschub geleistet. Auch unsere Akademie hält ihre Arbeit vom „Homeoffice“ aus mittels diverser Videokonferenz-Programme aufrecht. Wo vor ein paar Wochen noch unbedingt eine handschriftliche Unterschrift erforderlich war, wird nun digital abgezeichnet. Wo vor ein paar Wochen noch ein bilateraler Anruf ausgereicht hat, heißt es jetzt „mach mal Deine Kamera an“. Und bei jeder Tagungsabsage stellt sich die Frage: Wie können wir abgesagte Veranstaltungen digital ersetzen?

Und ehrlich gesagt kommt auch die Frage: Wollen wir das? Denn für eine Akademie berührt diese Frage quasi die Identität. Seit ihrer Gründung vor 75 Jahren setzt sie auf die persönliche Begegnung, die lebendige und leibhaftige Diskussion miteinander, angeschlossen an ein Tagungszentrum mit Gästebetten.

Man kann in Videokonferenzen und Webinaren erstaunlich konzentriert und effektiv arbeiten. Zum Teil wurde politische Jugendbildung bereits – und wird nun noch verstärkt – in digitalen Formaten praktiziert. Weil – wie Thomas Krüger, der Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, kürzlich im Hinblick auf die jüngeren Generationen sagte: „Fakt ist, dass für die jüngeren Generationen zwischen analog und digital kein Unterschied besteht. Das Analoge hat das Digitale in sich aufgenommen.“

Das mag an sich stimmen – was uns dabei aber klar sein sollte: Die digitale Kommunikation ist eine andere als die analoge. Bei einer Videokonferenz oder einem Webinar ist kein direkter Blickkontakt möglich. Das bzw. die Gegenüber sind als zweidimensionales Bild meist nur von den Schultern an aufwärts zu sehen. Ein Wahrnehmen der Ausstrahlung, der emotionalen Befindlichkeit, der Körpersprache ist nur sehr eingeschränkt möglich. Man spürt das Gegenüber nicht in dem Maße wie in einer Vis-à-Vis-Situation. Das kann als Entlastung empfunden werden oder eben auch als Verlust. Auch das gruppendynamische Geschehen, das bei vielen Seminaren ganz wesentlich ist, ist erst einmal gedämpft. Der/ Die Moderator_in kann alle Teilnehmenden stummschalten und immer nur der Person, der er/ sie das Rederecht einräumt, das Mikro freischalten. Das heißt, in Videokonferenzen herrscht herrliche Ruhe – keine spontanen Seufzer, keine Zwischenrufe, keine ungebetenen Kommentare. Wie gesagt: erstaunlich konzentriert und effektiv kann man da arbeiten.

Digitale Formate sind nicht besser oder schlechter, aber: anders. Diese Andersartigkeit sollte stets in ihren Wirkungen mitgedacht und reflektiert, auch angesprochen werden. Das Analoge wird sich im pädagogischen Bezug nicht erübrigen, aber es kann durch Digitales sinnvoll ergänzt werden – insbesondere in Zeiten einer Pandemie.

Zum Schluss

Die Angemessenheit der Infektionsschutzmaßnahmen zu diskutieren ist mühsam. Zumal das Verhalten des Virus gerade erst erforscht wird. Vieles von dem, was jetzt vor sich geht, werden wir sowieso erst in etwa einem Jahr im Rückblick beurteilen und einordnen können. Wie wenig wir darin geübt sind, mit Unklarheit und Ungewissheit umzugehen, das hat uns diese Pandemie gezeigt.

Corona ist ein Stresstest – für das Gesundheitssystem, für das Bildungssystem, für Paarbeziehungen, für Familien, die Tourismusbranche, das Gastgewerbe, für Arbeitgeber_innen, für Arbeitnehmer_innen, für die Kirchen, für unser gesellschaftliches Miteinander u. v. a. m. Und die Menschen sind unterschiedlich stark davon betroffen.

Die meisten von den Themen, die momentan in den Medien virulent sind, sind nicht neu, sondern durch die Pandemie „lediglich“ dringlicher und bewusster geworden. Zum Beispiel, dass es immer noch nicht gut bestellt ist um die Bildungsgerechtigkeit in unserem Land.

Nehmen wir die Corona-Phase als eine Chance, Missstände klarer zu sehen und begegnen wir dem, was wir sehen, offen, besonnen und – wie immer – mit einer guten Portion Zuversicht.

Eines ist sicher: Auch wenn die außerschulische politische Jugendbildung während des Shutdowns im Gegensatz zur Schulbildung quasi kein öffentliches Thema war: Sie ist wichtiger denn je. Gerade jetzt.

Tanja Urban, Dipl.-Sozialpädagogin, ist seit 2017 Studienleiterin im Themenbereich „Gesellschaft, Politik, Staat“/ Fachdienst „Jugend ∙ Bildung ∙ Politik“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungspolitik und Gesellschaftspolitische Jugendbildung.

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