Das Virus als Metapher

Über rhetorische Aufrüstung in viralen Zeiten

75 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs befinden sich Europa und die ganze Welt erneut im Krieg. Jedenfalls, wenn man der politischen Rhetorik dieser Tage folgt. Das Gedenken an die Befreiung Deutschlands von der Nazidiktatur und das Ende der Kriegshandlungen auf dem Kontinent fällt in diesem Frühjahr zusammen mit dem Höhepunkt der Corona-Pandemie. „Nous sommes en guerre!“, verkündet der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in einer Regierungserklärung und sieht sein Land im Kampf gegen einen ‚unsichtbaren Feind‘. In Deutschland holen Wirtschafts- und Finanzminister die ‚Bazooka‘ aus dem Waffenschrank. In den USA profiliert sich der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, mit ähnlich martialischen Äußerungen: „Es ist, als würde unser Land von einem äußeren Feind angegriffen. Dies ist ein Krieg.“ (Quelle: StZ vom 17.3.2020, S. 6) Vom amtierenden US-Präsidenten hört man ähnliche Töne.

Bemerkenswert an Bidens Worten ist, dass hier von einem ‚äußeren‘ Feind die Rede ist. Damit spielt nicht nur er auf der Klaviatur jener Ängste, die die Bevölkerung des Lands im Kampf gegen Bedrohungen von außen sehen. Biden ist damit, historisch betrachtet, in ebenso zweifelhafter wie zahlreicher Gesellschaft. Als im Preußen der 1830er-Jahre die Cholera-Epidemie grassiert, spricht Friedrich Wilhelm III. unter Anspielung auf den französischen Erzfeind von einer ‚Pest aus dem Westen‘. Gegen Ende desselben Jahrhunderts werden polnische Fremdarbeiter dafür verantwortlich gemacht, die Pocken nach Berlin gebracht zu haben (Quelle: vgl. StZ vom 21./22.3.2020, S. 8).

In Zeiten epidemischer Krankheit stellt die Metaphorik des Krieges offenkundig eine gängige Form verbaler Aufrüstung und Mobilmachung dar. Darum lohnt jetzt eine Relektüre des nach wie vor erhellenden Essays von Susan Sontag über „Krankheit als Metapher“ (Seitenzahlen im Folgenden zitiert nach der dt. Ausgabe in der ‚Reihe Hanser‘, München-Wien 1978). Selbst von einer akuten Krebserkrankung betroffen, beschreibt die Schriftstellerin und Publizistin 1977 die Phantasien und sozialen Strategien, die sich um Krankheiten wie Tuberkulöse oder Krebs herausbilden. Sie beschreibt die Mechanismen der Ausgrenzung einzelner Individuen und ganzer Nationen, den feindseligen Gebrauch von Krankheitsbildern in der politischen (und oft auch religiösen) Rhetorik.

Sontags brillante Analyse kann hier nicht ausführlich wiedergegeben, nur zur Lektüre empfohlen werden. Erinnern will ich an ihr Anliegen: „Zeigen will ich, dass Krankheit keine Metapher ist und dass die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen (…) darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen. (…) Dem Bemühen um Aufklärung dieser Metaphern und Befreiung von ihnen ist diese Untersuchung gewidmet.“ (aaO., 5)

Aufklärung tut gewiss gerade in Zeiten zunehmender (und manchmal gezielt geschürter) Ängste not. Derzeit liegt die Versuchung nahe, in einer Virus-Epidemie (ähnlich wie zuvor in der TB und im ‚Krebs‘) das Abbild gesellschaftlicher Probleme, mehr noch: die Krankheit des Jahrhunderts, ‚Corona‘ also als Ausdruck und Konsequenz und – der Übersprung liegt dann nahe – auch als Strafe für unsere Zivilisation, unseren Lebensstil in einer globalisierten Welt zu sehen.

Eine solche Metaphorik legt sich bei viralen Erkrankungen und ihren Übertragungswegen insofern nahe, als sie längst durch die Rede von Computerviren, feindlichen Hackerangriffen etc. vorbereitet ist. Wenn sich also Donald Trump und die chinesische Staatsführung nun kaum überraschend gegenseitig für die Verbreitung des Virus verantwortlich machen, dann durchdringen sich hier politische Propaganda und wirtschaftlicher Konkurrenzkampf (nicht zuletzt im IT-Bereich). Innenpolitischer Machterhalt und außenpolitisches Hegemonialstreben bedienen sich der Sprachbilder einer viralen Infiltration und Invasion und nutzen dabei zugleich die technisch-medialen Möglichkeiten virtueller Kriegsführung und Desinformation. Auf diesen metaphorischen Nährboden gedeihen leicht auch in anderen vom ‚realen‘ Virus befallenen Gesellschaften Bedrohungsängste vor dem äußeren oder gar schon eingedrungenen, den sozialen ‚Organismus‘ angeblich ‚zersetzenden‘ Feind.

Was braucht es in einem so aufgeheizten Metapherngestöber? Susan Sontag macht deutlich, dass es gerade die epidemisch wirksamen, aber unverstandenen (‚mysteriösen‘), also wissenschaftlich noch nicht ausreichend erforschten und damit leicht ‚mystifizierbaren‘ Krankheiten sind, die zu metaphorischem Missbrauch reizen (vgl. 66). Gerade hier entsteht, was sie die „populäre Mythologie“ (19) einer Krankheit nennt. Umgekehrt ist ihr zufolge die erfolgreichste Methode der „Entmythisierung“ (9) eine gründliche wissenschaftliche Erforschung und wirksame medizinische Bekämpfung der Krankheit. Die erst nach Sontags Essay sich vollziehende Entwicklung des Umgangs mit dem HI-Virus seit den 80er-Jahren bestätigt meines Erachtens ihre These. Auch wenn man sicherlich nicht davon sprechen kann, dass eine AIDS-Erkrankung heute von Stigmatisierung frei ist.

Auch im Blick auf eine Entmythisierung und ‚Entmetaphorisierung‘ also sollte man auf rasche Erfolge bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Corona-Virus hoffen. Bis dahin und sicherlich auch darüber hinaus gilt es, in politischen Verlautbarungen ebenso wie im alltäglichen Sprachspiel ‚den Ball flach zu halten‘. Das gilt natürlich auch für den Bereich der Religion und die konkrete kirchliche Praxis. Christlicherseits verbietet sich ohnehin jedem verantwortlich Agierenden die Rede von einer Krankheit als ‚Strafe‘ oder ‚Geisel Gottes‘ und jedes Heraufbeschwören endzeitlicher Stimmungen.

Bernd Ulrich hat es in seinem Artikel „Apokalypse, not now“ lapidar formuliert: „Man sollte lieber dankbar sein dafür, dass wir es mit einer Gefahr zu tun haben, aber nicht mit einem Feind. Ein Virus ist halt kein Feind. Ein Virus ist einfach nur ein Virus.“ (Quelle: ‚Die Zeit‘ vom 18. März 2020, S. 13) Das macht die Lage nicht leichter. Aber klarer.

Der Theologe Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring ist Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theologie, Digitalisierung der Kommunikation sowie Kultur. Zudem lehrt er seit 2001 im Bereich Praktische Theologie an der Universität Basel/CH.

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