Noch vor zehn Jahren lag er im September. In den 1970er Jahren, in den Jahren, als ich noch ein Kind war, lag er sogar im Dezember. Seit dieser Zeit – und damit wird mir auch bewusst, dass ich mit meinem konkreten Leben ein Teil dieses weltumfassenden Prozesses bin – rückt der Tag von Jahr zu Jahr immer weiter nach vorne.
Welchen Tag ich damit meine, fragen Sie sich jetzt möglicherweise. Was ist das für ein Datum, das im Laufe der letzten Jahre immer weiter nach vorne rückt?
Ich meine den sogenannten Welterschöpfungstag, den sogenannten „Earth overshoot day“. Den Tag eben, an dem die Ressourcen, die uns diese Erde zur Verfügung stellt, durch unseren Konsum aufgebraucht werden. Nach diesem Datum leben wir quasi „auf Pump“. Oder: Wir machen Schulden bei der Erd-Bank. Mit diesem Datum ist – weltweit gesehen – unsere CO2-Emmission größer als das, was unsere Atmosphäre aufnehmen und verarbeiten kann. Aktuell liegt das Datum des Welterschöpfungstags global gesehen am 29. Juli, für Deutschland herunter gerechnet sogar schon am 3. Mai.
Earth Overshoot Day – Leben auf Schuldenbasis, Schulden machen bei der Erd-Bank. Ganz in ökonomischen Kategorien kommt dieser Begriff daher. Bewusst – denn er will uns moderne Menschen aufrütteln. Er spricht die Sprache, die die meisten Menschen verstehen und die durchgängig „normal“ geworden ist.
Genauso „normal“ und genauso – bewusst – ökonomisch kommt aus dem Losungskalender der Herrnhuter Brüdergemeine auch der Monatsspruch für diesen September 2019 daher: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und würde doch Schaden nehmen an seiner Seele?“
So jedenfalls lautet die traditionelle Lutherübersetzung des bekannten Wortes aus Mt 16,26. Ich halte diese Übersetzung für sehr gefährlich; die Übersetzung Luthers ist schon ein Teil des Problems. Denn: In diesem Wortlaut heißt es doch, dass die Seele entscheidend ist; sie wird dem Gewinnen der Welt entgegen gestellt. Damit suggeriert sie: Das andere, die Welt, der Kosmos, die Erde ist egal, gleichgültig, nicht so wichtig. Es kommt auf das Seelenleben an, auf die Gesundheit der Seele. Ihr ist alles andere unterzuordnen. Genau solch eine Haltung, die auch in unseren Kirchen über Jahrhunderte gepflegt wurde, gerade auch in frommen Kreisen, hat ja einem Leben auf Pump, einem Leben auf Kosten der Erd-Bank massiv Vorschub geleistet: Wenn meine Beziehung zu Jesus stimmt, wenn ich genug mit ihm verbunden bin, dann ist alles in bester Ordnung. Darauf alleine kommt es an. Das andere wird sich dann schon fügen. Noch einmal: Solch eine Einstellung wird auch von solch alten Luther-Übersetzungen inspiriert – leider.
Dabei ist die Sprache des Wortes Jesu eigentlich eine ganz andere: Sie ist nämlich eine, wie ich schon andeutete, durch und durch ökonomische Sprache. Wenn ich direkt übersetze und die Begrifflichkeit in ihrem historischen Kontext ernst nehme, würde das Logion Jesu weitaus weniger lyrisch, aber sachlich angemessener so lauten: „Denn was wird ein Mensch davon haben, wenn er den gesamten Kosmos als Rendite verdient?“ Sie spüren: Das griechische Original tickt hier ganz und gar in den Kategorien der Finanzwelt. Das gilt auch für den Nachsatz: „…aber sein Leben als Bußzahlung hergeben muss.“ Also in Gänze: „Denn was wird ein Mensch davon haben, wenn er den gesamten Kosmos als Rendite verdient, aber sein Leben als Bußzahlung hergeben muss?“ Er wird alles verlieren, so die unterstellte Antwort des Jesus-Wortes. Es geht also gar nicht um die Seele, sondern um unser physisches Leben. Es geht gar nicht um das Gegenüber von Welt und Seele, sondern um das Ineinander von Kosmos und unserem Leben. Und es geht um unsere Lebenshaltung, die von ökonomischen Gewinn-Kategorien, von Wachstumsdenken und Gewinnerwartung bestimmt wird. Diese wird in Frage gestellt; sie steht im Fokus des Jesus-Wortes.
Angesichts der Klimakrise, in der wir schon mitten drin stecken, gewinnt dieses Jesus-Logion neu an Brisanz. Was wird es denn der Menschheit helfen, wenn sie alles der Gewinnerwartung unterwirft, die gesamte Welt vermarktet, alles nutzt und aufbraucht, alle natürlichen Ressourcen zu Geld macht, alles haben will und noch viel mehr, aber die Grundlagen des Lebens radikal in Frage stellt und verantwortungslos die Zukunft außer Acht lässt? Solch ein Verhalten wird mit dem Verlust des Lebens, mit der Bußzahlung des eigenen Lebens zu rechnen haben.
Hier müsste doch jeder Mensch aufhorchen und sagen: So kann das nicht weitergehen! Hier ist ein „Stopp“ angezeigt! Stattdessen machen viele Zeitgenossen so weiter, als wenn nichts geschehen sei. Und so mancher Verantwortlicher – gerade auch in der Politik – versteht jede Maßnahme, die zur Verhaltensveränderung führen könnte, als Begrenzung der Freiheit.
Genau hierin besteht ja möglicherweise gerade das Problem, das Jesus anspricht – nämlich in solch einem grenzenlos gedachten Verständnis von Freiheit. Solch ein Freiheitsanspruch steht in der Gefahr, sich alles unterwerfen, den ganzen Kosmos gewinnen zu wollen. Jesus hat mit seinem Leben und mit seiner Hoffnung dafür geworben, dass Freiheit etwas wunderbares, aber eben auch anderes ist: Freiheit ist nicht die Ichfreiheit, mit der ich mir etwas von anderen nehme, sondern eine Freiheit, die mir von Gott wunderbarerweise geschenkt ist. Mit diesem großartigen Gefühl von geschenkter Freiheit habe ich dann auch die Welt und den anderen im Blick. Um solch ein positives Verständnis von Freiheit hat Jesus geworben. Die Befreiung von der vermessenen, schädlichen, letztendlich tödlichen Ichfreiheit ist sein Ziel – auch in diesem Jesus-Logion. Wer diese Ichfreiheit lebt, der wird die Zukunft und sein Leben radikal verlieren.
Also noch einmal in meiner Übersetzung: „Denn was wird ein Mensch davon haben, wenn er den gesamten Kosmos als Rendite verdient, aber sein Leben als Bußzahlung hergeben muss?“ Wenn ich diese Frage Jesu ernst nehme, werde ich und werden wir nicht darum herum kommen, nötige Änderungen anzugehen. Der Erhalt unseres Lebens auf dieser Erde wird nicht zum Null-Tarif gelingen. Weiter so – das wird nicht funktionieren.
Wenn ich den Weckruf Jesu konsequent durchdenke, müssten wir da nicht einige fundamentale Einstellungen verändern? Wir haben uns daran gewöhnt, die Herausforderungen in folgender Reihenfolge anzugehen: „Erstens: Was nützt es dem Menschen? Zweitens: Was dient dem Zusammenhalt der Gesellschaft? Und dann erst drittens: Wie können wir die Ressourcen der Welt wahren?“ Nehme ich Jesus beim Wort, dann müsste ich die Reihenfolge umdrehen und die Verwobenheit meines Lebens in den gesamten Kosmos obenan stellen. Jede Herausforderung ist dann mit folgender Frage zu klären: „Was lässt die Verwobenheit meines Lebens mit dem gesamten Kosmos für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt überhaupt noch zu?“ Aus der Befreiung von der Ichfreiheit, aus der Freiheit des Lassens wird so die Gelassenheit geboren, nicht alles haben zu wollen und nicht mit allem wachsen zu müssen.
Bis uns dies gelingt, wird noch viel in den Herzen und Köpfen zu geschehen haben. Jesus, der auch heute noch zu uns spricht, lässt mit seiner Frage nicht locker. Und unsere Antwort wäre dann die, konsequent einer Theologie der Erde das Wort zu reden. Oder es wäre unsere Aufgabe, der unverfrorenen Rede von der Ichfreiheit auch in der Politik zu widersprechen und dieses Gerede nicht nur zu ertragen. Oder es wäre auch in unseren Kirchen an der Zeit, das Gespräch mit den Friday-for-Future-Aktivisten zu suchen und konsequent eine nachhaltige Lebensweise vorzuleben. Vorreiter sind wir hier lange nicht mehr – einer Theologie der Erde, die unser Ding sein sollte, ganz widersprechend. So kann das Wort Jesu für den Monat September provokant für alle sein und wachrütteln. Hoffentlich hören es viele Menschen in unserem Land aufmerksam und spüren in ihm den leidenschaftlichen Ruf in die wunderbare Freiheit des Lassens.