Wie Mehltau legt es sich auf die Gesellschaft. So jedenfalls beschreibt der bekannte Soziologe Hartmut Rosa die Wirkung des Virus auf die „soziale Energie“ der Gegenwart. Auf der einen Seite entsteht ein positives Verständnis von Solidarität: Plötzlich werden Nachbarn in Anspruch genommen, weil man nicht mehr einkaufen kann. Und die Menschen empfinden es auf einmal als Glücksfall, wenn sich in diesen herausfordernden Zeiten Probleme gemeinsam lösen lassen. Es entsteht so ein neuer Blick für das, was den anderen, was uns gemeinsam angehen sollte. Auf der anderen Seite verstärkt das Virus das Misstrauen gegenüber dem Anderen. Fast körperlich ist es spürbar: Stellt der Andere vielleicht eine potenziell tödliche Gefahr dar, weil er das Virus in sich trägt? Wir gehen auf Distanz. Hartmut Rosa spricht deswegen vom Verlust der „sozialen Energie“ in der aktuellen Gesellschaft. Noch, so seine Meinung, ist es nicht ausgemacht, wohin das Pendel in der Zukunft ausschlagen wird.
Und doch: Corona macht das Verlangen nach persönlicher Begegnung wieder stärker. Das, was so selbstverständlich war, das, was jeder Tag für Tag erlebte, wird wieder ein Sehnsuchtsort: die direkte, ungezwungene, natürliche Begegnung. Das Miteinander. Das Wohl-Sein in der Gemeinschaft. Und natürlich: Auch wenn sich Menschen, Nationen oder Regionen voneinander abschotten und „Risikozentren“ ausgemacht werden: Corona verlangt nach Kooperation, nach der Orientierung am Gemeinwohl. Corona wird um des puren Lebens willen den Blick für das Gemeinsame, für das Wohl der „gemeinen“ Welt schärfen.
Natürlich bin ich kein Prophet. Aber ich bin davon überzeugt, dass Corona diesen Begriff neu an die Oberfläche spülen wird: Gemeinwohl nämlich. Ein alter Begriff. Geprägt durch den scholastischen Theologen Thomas von Aquin. Das „bonum commune“ war über Jahrhunderte hinweg ein faszinierender Leitbegriff mit normativer Wirkung. Erst mit der Renaissance und der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft verlor er an Bedeutung. Adam Smith, die Gallionsfigur des Kapitalismus, ließ das Wohl aller, das Wohl des „gemeinen Mannes“ aus dem Eigennutz einer jeder Frau und eines jeden Mannes entstehen. Gelenkt durch eine „unsichtbare Hand“. Und Niklas Luhmann hat im letzten Jahrhundert die Gesellschaftstheorie dadurch geprägt, dass er von sich autonomen gesellschaftlichen Funktionsbereichen spricht. Jedes System folgt seinen eigenen Regeln. Was soll da noch der Begriff vom „Gemeinwohl“ bewirken? Er schien ortlos geworden. So das Ergebnis des letzten Jahrhunderts. Und so auch die Lebensweise von praktisch allen Menschen und allen Systemen. Bisher – so meine Prognose.
Auch wenn alles, was wir als „Gemeinwohl“ begreifen, mit dieser Vorgeschichte durch das Raster von Freiheit und freier Entscheidung hindurchpassen muss, so kommen wir doch nicht umhin, mit Corona zu fragen: Was dient dem Ganzen? Was ich will und in freier Entscheidung gesetzt habe, geht doch den Anderen auch an. Es ist eben nicht egal, ob ich eine Maske trage oder mich an die gemeinsam festgelegten Regeln halte. Meine Freiheit ist eben nur dann „meine“ Freiheit, wenn ich den Anderen als meinen Freiheits-Garanten mitdenke. Oder aber theologisch gesprochen: Freiheit ist immer – wirklich immer – kommunikative Freiheit. Nur deswegen, weil ich – theologisch gesprochen – von Gott freigesprochen bin, kann ich mich in großer Dankbarkeit als freier Mensch verstehen.
Und was kommt dabei für das „gemeine“ Wohl heraus? Das, was Thomas Mann 1943 in seiner Erzählung „Das Gesetz“ als „Quintessenz des Menschenanstandes“ beschrieben hat: die zehn Gebote oder die zehn Angebote der Freiheit nämlich. Der Dekalog appelliert an alle, endlich das Rad um der Freiheit willen herumzureißen. Das „Begehren des nächsten Hauses“, die Entheiligung des Feiertages, die Bereicherung auf Kosten der Anderen und die Degradierung der „Alten“ sollte endlich ein Ende haben – um der höchsten Lebensgabe willen, der geschenkten Freiheit nämlich.
So versuche ich einmal, die „Quintessenz des Menschenanstandes“ in unsere Corona-Zeit zu übersetzen. Denn auch wir befinden uns möglicherweise in einer besonderen Zeitenwende. Da tut es dann gut, an das „gemeine“ Wohl zu erinnern.
Erstes Gebot: Vertraue dem, der Dir die Freiheit zum Atmen, die Freiheit zum verantwortlichen Handeln gegeben hat. Auf ihn setze die Hoffnung Deines Lebens. Vertraue nicht den Stimmen derer, die sagen: Wir müssen jetzt oder ganz bald wieder voll durchstarten. Wir brauchen das Größer-Werden, das Mehr-Haben, um leben zu können. Lass es nicht zu, dass dieses Denken zum Gott Deines Lebens wird. Das alles ruiniert nur Deine Freiheit. Du darfst aus der Corona-Krise Lehren ziehen.
Zweites Gebot: Verwechsele nicht die Namen. Jetzt nicht, und auch nicht in der Zeit nach der Corona-Krise. Wohlstand und Wohlsein ist etwas anderes als Wachstum und Weitermachen. Das, was Du in der Krise gelernt hast, verfolge auch weiterhin: die Achtung vor den sozialen Diensten, vor den systemrelevanten Menschen, die Dir geholfen haben. Die alles dafür getan haben, dass das „gemeine“ Wohl aller erhalten bleibt.
Drittes Gebot: Die Corona-Krise hat Dir gezeigt, dass Du nicht sieben Tage in der Woche ein Held sein sollst und auch nicht allein bist. Du bist eingebettet in ein Geflecht von nahen Beziehungen. Das hast Du in der Krise gebraucht. Erinnere Dich auch in Zukunft an mindestens einem Tag pro Woche daran.
Viertes Gebot: Ehre Deine Vergangenheit. Ehre diejenigen, die schon vor Dir das Beste gegeben und auch Fehler gemacht haben. Achte Deine Region, in der Du groß geworden bist. Du musst nicht die ganze Welt erobern. Die Corona-Krise hat Dir gezeigt, wie wichtig und auch schön Deine Region und Deine Herkunft ist. So kannst Du gut leben und auch überleben, und die nach Dir kommenden Generationen auch.
Fünftes Gebot: Gehe nicht über Leichen. Erst recht nicht, wenn es um ein grenzenloses Wachstum geht. Achte das Leben der Anderen, auch wenn Deine Freiheit damit an Grenzen kommt. Das sollte Dich die Krise gelehrt haben. Wähle den Weg des Lebens.
Sechstes Gebot: Du brauchst eine Partnerin oder einen Partner, wenn es um das Wohlsein geht. Dringe nicht in die Privatsphäre Deiner Mitmenschen ein. Auch wenn Du nach der Krise immer mehr digital unterwegs sein wirst.
Siebtes Gebot: Achte das Gemeineigentum. Die Güter, die allen Menschen „gehören“. Die Luft, die Wälder, das Wasser gehören dazu. Sie waren in der Corona-Krise oft genug Deine Zuflucht und Dein Hoffnungsort. Erinnere Dich immer wieder daran. Eigne Dir das Gemeineigentum nicht so an, als wenn es nichts kosten würde. Das wäre Diebstahl am Gemeinwohl.
Achtes Gebot: Mache den Mitmenschen nicht schlechter als er ist. Du brauchst Deinen Nachbarn. Dann verlässt er Dich auch in Krisenzeiten nicht. Wer schlecht über andere Mitmenschen redet, soll sich auch nicht wundern, dass die gesamtgesellschaftlichen Zustände verworrener und aggressiver werden. Kümmere Dich darum, dass die soziale Energie erhalten bleibt.
Neuntes Gebot: Es ist genug da. Du musst nicht hamstern. Du hast es in der Krise erlebt: Nachschub kommt. Die Welt ist voller Güter. Manchmal musst Du warten. Aber das ist nicht schlimm. Desto mehr freust Du Dich, wenn Dein Wunsch-Gegenstand wieder vorhanden ist.
Zehntes Gebot: Jede und jeder soll die Möglichkeit haben, sich wirtschaftlich entfalten zu können. Dazu braucht sie oder er in Krisenzeiten auch Hilfen von der Gemeinschaft. Rege Dich darüber nicht auf. Trage es vielmehr mit. Auch das ist gelebtes Gemeinwohl.