Was für ein übermütiges, starkes und kritisches Wort, geradezu eine Protestnote – die biblische Losung für den Monat März:
„Wenn diese schweigen, werden die Steine schreien!“ (Lukas 19,40)
Natürlich: Dieses Wort Jesu aus dem lukanischen Sondergut muss in den Zusammenhang eingebettet werden, um diese Protestnote Jesu wahrhaft verstehen zu können:
Es war bei seinem Einzug in Jerusalem. Die Jünger hatten einen Esel geholt und Kleider auf dem Weg ausgebreitet. Sie jubelten, und mit ihrem Jubel steckten sie viele Zeitgenossen an. Ein großer Aufmarsch also. Gemeinsam riefen sie: „Gelobt sei, der da kommt! Der wahre König! Friede sei im Himmel und auf der Erde!“Nicht allen Zuschauern gefiel dies. Einige empfanden das Geschrei als ruhestörenden Lärm. Vor allem die Machthaber und Verantwortlichen des Volkes wurden hellhörig: Einer aus der Mitte des Volkes wird als König bejubelt! Das kann nicht gut gehen! Denkt doch an die römische Herrschaft im Land. Das wird als Auflehnung gegen den Kaiser verstanden. Das können wir nicht dulden, denn das gibt Ärger. Gewaltigen Ärger. Also: Ruhe! Ruhe endlich! Zumindest nicht so laut werden. Ruhe bitte! Sie fordern Jesus deswegen auf, die jubelnden Jünger und die jubelnden Zeitgenossen zur Mäßigung zu rufen.
Aber Jesus antwortet: Sollten die Jünger verstummen und ich sie zum Schweigen bringen, dann werden an ihrer Stelle die Steine schreien.
Ja, die Jünger und mit ihnen die Jubelnden am Straßenrand, sie singen Protestlieder gegen eine scheinbare Alternativlosigkeit. Der Jubel der Frauen und Männer – es ist das Lied des Lebens gegen die Mächte der Gewalt und des Todes. Wer Gott die Ehre gibt, der verweigert sich den stumm machenden Gestalten und Schein-Wahrheiten inmitten der Gesellschaft.
Deswegen erwidert Jesus in aller Ruhe gegenüber seinen Gegnern: Wenn sie es nicht tun, dann werden die Steine schreien. Dann werden sich die versteinerten Verhältnisse verfestigen. Dann wird sich die Alternativlosigkeit in Stein gemeißelt werden und sich in Architektur niederschlagen. Und die Architektur wird die Sinnlosigkeit in die Welt hinausschreien. Diese Steine werden dann aber über kurz oder lang zusammenbrechen. Wartet nicht darauf, bevor es zu spät ist. Lasst lieber jetzt die Lebens-Stimmen der Jünger zu! Alles andere wird noch mehr Ärger, Verwirrung, Tod und Zerstörung mit sich bringen.
Ja, jede Architektur, jeder gebaute Stein drückt etwas aus. Jeder gebaute Stein hat eine Sprache. Kann schreien.
In der ehemaligen DDR war es die trennende Mauer, deren Steine täglich schrien. Die Bedrängnis, die alltägliche Enge, die todbringende Gefährdung, die menschenverachtende Unfreiheit schrien sie sichtbar hinaus – diesseits und jenseits der Mauer. Bis Christinnen und Christen im Namen Jesu zu Friedensgebeten aufriefen und damit andere Zeitgenossen ansteckten. Die schreienden Steine fielen im November 1989 in sich zusammen. Unter den Protestliedern der Bedrängten, unter den Liedern derer, die sich der Alternativlosigkeit nicht hingaben. Gott sei Dank!
Ein zweites Beispiel: In Jebenhausen, einer der Nachbarorte von Bad Boll, ist für mich das Jüdische Museum solch eine Architektur, deren Steine täglich schreien. Wer in der ehemaligen Kirche die Ausstellung zum Schicksal der Juden in Göppingen aufmerksam betrachtet, wird die Beklemmung nicht mehr los. Mir jedenfalls geht es so. Da sind die konkreten Straßen, Geschäfte und Menschen in der nahen Stadt. Vorstellbar. Fassbar. Oder besser: Unfassbar, was Menschen da angetan wurde. Unfassbar, wie sich der rechte Terror Tag für Tag, Monat für Monat im Kleinen festsetzte und wer alles da mitzog. Diese Steine des Jüdischen Museums in Jebenhausen rufen täglich ihr Protestlied hinaus: Pass auf. Setze dich mit Deiner Kraft dazu ein, auch in Deiner Kirche, den rechten Parolen keinen Raum zu geben. Auch nicht einen Millimeter. Denn Jesus ist Dein Leben. Gott ist der Herr der Welt. Und das hat Konsequenzen für diese Welt.
Ein drittes, anderes Beispiel: In unseren Kirchen und Andachtsräumen, auch in unserer Kapelle hier im Haus, schreien in diesen Wochen und Monaten die Steine. Denn: Gesungen werden darf nicht, und das wird sich auch noch in Wochen nicht ändern. Der Jubel: verstummt. Das „Ehre sei Gott in der Höhe“: Ruhestörender, nein, potenziell infizierender Lärm. Das österliche Lied „Christ ist erstanden“ in vier Wochen: allerhöchstens vom Verstärker und von der Musikanlage kommend. Aber die Steine unserer Kirchen und Andachtsräume schreien es stellvertretend hinaus: Es gibt einen Höheren und Mächtigeren als dieses lähmende Virus.
Und so machen die Steine unserer Kirchen hoffentlich auch nachdenklich. Denn: Das Rufen dieser Steine lässt die Welt und uns hoffentlich erkennen, dass mit der Pandemie das Wertegefüge in unseren Gesellschaften vor einer Frage steht: Können, wollen wir so weiterleben wie bisher? Genau vor einem Jahr hat im März 2020 das Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie, mit dem auch wir als Akademie zusammenarbeiten, davon gesprochen, dass wir so etwas wie „Zukunftskunst“ neu zu lernen hätten: Die Ausgestaltung der globalen Wertschöpfungsketten, der sozialen Sicherungssysteme und der nachhaltigen Entwicklung seien für die Zeit nach Corona zu reformieren. Dringend. Langfristige Transformationsherausforderungen stehen in Wirtschaft und Gesellschaft an. Jetzt sind sie auf den Weg zu bringen. Jetzt, in der Krise. „Aber wann, wenn nicht jetzt – in ohnehin für die Wirtschaft besonderen Zeiten – sollte eine sehr gute Gelegenheit sein, die ohnehin notwendigen Transformationsprozesse zu beschleunigen und proaktiv zu begleiten“, hieß es im März 2020. Ist seit dem letzten Jahr wirklich Wesentliches geschehen? Die kollektive Einsicht in und für ein anderes, bewussteres Lebens ist gewachsen. Dafür dürfen wir dankbar sein. Aber wird sich dies wirklich in unserer gemeinsamen Lebensführung auswirken? Regionale Vermarktung in der Landwirtschaft zum Beispiel: Sie boomt in der Pandemie. Aber wird das nachhaltig etwas an unserer Ernährung ändern?
Mögen doch die schönen Steine unserer stillen Kirchen in diesen Tagen ihr Protestlied lautstark hinausrufen, uns nachdenklich machen und wir im Herzen, im Handeln und im Argumentieren ihm die Ehre geben. Mögen wir doch wahrhaft protestantisch leben. Dann werden versteinerte Verhältnisse hoffentlich ins Fließen kommen. Lebensdienliche Alternativen und „Zukunftskunst“ werden sichtbar. Oder um es dann mit Christoph Blumhardt zu sagen: Ja, dann sind wir am Straßenrand Jubelnde, wir sind „Christen Protestleute gegen den Tod!“ Und er wird uns auf jeden Fall nicht zum Schweigen bringen! Also: Protestantisch leben: Wenn nicht jetzt, wann dann?