Mit der Würde eines jeden Menschen geht es um die „Sakralität der Person“.
So jedenfalls sagt es der Freiburger Philosoph Hans Joas. Und weiter führt er aus: Schon im 18. Jahrhundert, aber dann insbesondere nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sei es zu einer tiefgreifenden globalen Verschiebung kultureller Art gekommen: Die Menschheit habe infolge des Mordes an Millionen von Menschen hinzugelernt und die menschliche Person selbst zum „heiligen Objekt“ erklärt.
Eine ungewöhnliche Formulierung – gerade in kirchlichen Kontexten, wo doch „das Heilige“ und die „Sakralität“ dem religiösen Zusammenhang vorbehalten zu bleiben scheint.
Und doch hat Hans Joas Recht: Dass der Mensch wahrhaft Mensch bleiben kann, ist die fundamentale Botschaft des Evangeliums vom menschgewordenen Gott. So können wir uns nur freuen, wenn es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Die Bedeutungstiefe dieses Leitsatzes, dieses Ankers im Grundgesetz, sollten wir uns meines Erachtens durch einen kontinuierlichen „Nachhilfeunterricht“ immer wieder vor Augen führen lassen.
Dabei haben wir als Christinnen und Christen demütig zu bleiben: Denn dass dieser Leitsatz unser Grundgesetz eröffnet, ist das Ergebnis der Menschenrechtsbewegung, aber keineswegs eine Leistung der Kirchen und der Theologie. Zu lange haben sich Kirchen und Theologie bedeckt gehalten, wenn es um Menschenwürde und Menschenrechte ging. So erinnert Hans Joas an Emile Durkheim, der im Getümmel des Dreyfus-Skandals 1898 geschrieben hatte:
„Diese menschliche Person, deren Definition gleichsam der Prüfstein ist, an dem sich das Gute vom Schlechten unterscheiden muss, wird als heilig betrachtet, sozusagen in der rituellen Bedeutung des Wortes. Sie hat etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihren Göttern verleihen. [...] Wer auch immer einen Menschen oder seine Ehre angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu, in jedem Punkt analog zu demjenigen Gefühl, das der Gläubige zeigt, der sein Idol profanisiert sieht.“
In der Tat: Die Entdeckung des umfassenden Wertes der Menschenwürde können sich die Kirchen nicht auf ihre Fahnen schreiben. Wir können lediglich dankbar und demütig zugleich zur Kenntnis nehmen, dass in der Geschichte der Menschheit vernünftige Zeitgenossen das Herz auf dem richtigen Fleck hatten und dies dann sprachlich in die richtige Form bringen konnten.
Dabei lassen sich in biblischer Perspektive gute Gründe dafür nennen, warum Artikel 1 des Grundgesetzes als geradezu „verbalinspiriert“ bezeichnet werden könnte. Für mich gehört an erster Stelle das Pauluswort aus dem Galaterbrief hinzu: „Da gibt es nicht Jude und Grieche, da gibt es nicht Sklave und Freier, da gibt es nicht Männliches und Weibliches; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). So verstehe ich dieses Wort: Die Zugehörigkeit zu einer Kultur, zu einer sozialen Schicht oder zu einer sexuellen Orientierung hat vor Gott jede Heilsbedeutung verloren. Es ist bedeutungs- und zwecklos geworden, sich auf eine vermeintliche Tatsache unserer weltlichen Sortierung zu berufen und zu meinen, daraus ergäbe sich eine herausgehobene Bedeutung und Bewertung eines Menschen oder einer Menschengruppe. Vor Gottes Angesicht und in Erinnerung an die Taufe sind unsere „Schubladen“ wertlos geworden. Es zählt vor Gott alleine nur der Mensch als Mensch – und das gibt ihm seine besondere Würde und „Sakralität“.
Dabei meint „Sakralität der Person“ jedoch etwas ganz anderes als die teilweise überheblich daherkommende Konzentration auf das „Ich“, die wir heute erleben: Da kreist alles um die Individualität des Einzelnen. Da kann jeder sagen, was er will, weil „man das ja mal sagen darf“. Da gilt alleine die individuelle Performance – quantifizierbar an der Zahl der Likes, Posts und vermeintlichen „Freunden“ in den sozialen Netzwerken. „Sakralität der Person“ ist das nicht, sondern egoistische Selbstsakralisierung des Individuums.
„Denn ihr seid alle eines in Christus Jesus“, schreibt Paulus. Wenn dies die Vision ist, dann geht die „Sakralität der Person“ einher mit der Vision der Einheit aller Menschen, der Vision einer achtsamen, demokratischen Gesellschaft. „Da gibt es nicht Jude und Grieche, da gibt es nicht Sklave und Freier, da gibt es nicht Männliches und Weibliches; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“: Von dorther verbietet sich in christlicher Perspektive jede rassistische Ausgrenzung, jede Abwertung eines Menschen angesichts seiner sexuellen Orientierung, jede Verachtung eines Menschen wegen seiner religiösen Prägung oder seiner Herkunft, überhaupt jede Missachtung des Gegenübers.
Von dorther ergibt sich aber auch die Aufforderung für jeden Menschen, sich aktiv um eine menschenwürdige Gestaltung dieser Welt zu bemühen – und genau hier beginnt das Engagement der Evangelischen Akademie Bad Boll. Dieser Wert der durch nichts aufgebbaren und durch nichts zu hintergehenden Würde eines jeden Menschen ist nämlich auch essentiell für den Dienst einer Evangelischen Akademie. Eine Akademie würde sich selber vom Wesenskern her in Frage stellen, wenn sie auch nur in Ansätzen ausgrenzenden Worten ein Forum bieten würde und nicht die Vision einer achtsamen, demokratischen Gesellschaft verfolgen würde. Sie sucht bewusst den werteorientierten Dialog mit Menschen unterschiedlichster Art, Herkunft und Prägung. Das ist ihr Auftrag und das ist ihre Vision als Einrichtung, die die „Humanität aus Glauben, Liebe, Hoffnung“ in christlicher Perspektive lebt und damit zum kontinuierlichen Aufbau einer demokratischen Gesellschaft einen Beitrag leistet.
Eine Evangelische Akademie wird dabei nicht alles gestalten und verändern können, was sich aktuell in unserer Gesellschaft abbildet – gerade, wenn es um einen um sich greifenden Rassismus in rechtspopulistischen Kreisen geht. Aber eine Akademie kann stellvertretend für die Zerrissenheit unserer Gesellschaft ihre Vielfalt abbilden und exemplarisch leben, was Dialog in Orientierung am Wert der Menschenwürde heißt: Jeder Form von Rassismus wird in Gesprächen der Boden entzogen, jeder Ausgrenzung wird entschieden begegnet, jede Entwertung auch von nicht anwesenden Menschen wird unterbunden. Die Zeiten, in denen die Akademien Kompromisse ausgehandelt und zur Harmonie in unserer Gesellschaft beigetragen haben, sind vorbei. Heute geht es eher darum, zu einer an Regeln orientierten Streitkultur einen förderlichen Beitrag zu leisten – und die erste und grundlegende Regel lautet, jedem Menschen Respekt und Achtung zu zollen.
Wenn Ressentiments gegen Minderheiten, Andersgläubigen, Homosexuellen, Journalist_innen oder politisch Engagierten in einer Evangelischen Akademie aktiv Einhalt geboten wird und solche Äußerungen unterbunden werden, dann ist dies kein Verbot von Meinungen, die „man ja wohl mal sagen darf“, sondern eine elementare Diskursregel, die alle Teilnehmenden und deren Menschenwürde ernst nimmt. Wenn diese Regel gebrochen wird, dann handelt es sich um eine Krise des Dialogs unter Demokratinnen und Demokraten. Ja, wir brauchen in unserer Demokratie eine Streitkultur, aber diese hat klaren Regeln zu folgen. Die „Sakralität der Person“, die den Respekt und den Anstand gegenüber jedermann gebietet, ist ihr Fundament.
Eine Evangelische Akademie wird diesen Wert gerade heute stellvertretend für die Gesellschaft und gegen alle neo-autoritären, anti-demokratischen Wurzelwerke unserer Zeit zu ihrem Wert machen, von diesem Wert geleitet werden und ihn visionär zur Grundlage einer zukunftsfähigen Gesellschaft machen. Wertschätzung, Würdigung und Achtung eines jeden Menschen, das ist Quelle und Ziel ihres Dienstes einer demokratischen Gesellschaftsgestaltung. Und eine Evangelische Akademie geht dann noch weiter: Sie lässt bei der Frage nicht locker, dass die „Sakralität der Person“ noch nicht alles ist, denn die „Sakralität“ allen Lebens wird sie dabei stets im Blick zu halten haben – auch die „Sakralität“ des tierischen Lebens, das ebenfalls „aus Erde gemacht ist“ (Gen 2,19) wie der Mensch. Daraus ergeben sich dann weitere, große Herausforderungen, aber visionär zu denken und zu leben, das ist ja „im Lichte des Evangeliums“ ihre stellvertretende Aufgabe in und für die Gesellschaft.