In die Geschichtsbücher der Weltgemeinschaft wird die aktuelle Corona-Krise 2020 mit höchster Wahrscheinlichkeit als ein markantes Ereignis aufgenommen. Alle gesellschaftspolitischen Folgen dieser Krise sind noch lange nicht absehbar – weder hierzulande noch weltweit. Bildungseinrichtungen sind geschlossen, Kultur- und Sportveranstaltungen untersagt, Grenzen „dicht“ gemacht, die Bewegungsfreiheiten deutlich eingeschränkt und nationale Ausnahmezustände ausgerufen. Die Bundeskanzlerin fordert im März 2020 dazu auf, alle nicht notwendigen Sozialkontakte zu vermeiden – ein gravierender Appell. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann nennt die soziale Distanz sogar „erste Bürgerpflicht“. Es bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Die gegenwärtige Krise stellt gerade eine offene Gesellschaft – und deren besonderer Schatz ist die in ihr gelebte Freiheit – vor ungeahnte, neue Herausforderungen.
Auf dem Boden der Freiheit ist diese Akademie entstanden: Wenige Woche nach dem Tag der Befreiung von der NS-Diktatur wurde sie vor 75 Jahren gegründet. Diskurs und Dialog, Begegnung und Austausch, Zukunftsorientierung und Vision, eben die Fundamente einer gelingenden Akademiearbeit – das alles sind Ereignisse, die erst auf dem Boden der Freiheit wahrhaft errungen werden können. Denn: Erst ein freies Gespräch, dessen Ergebnis nicht schon vorausgesetzt wird, ist ein wahrhafter Dialog. Und erst ein Austausch, der von keiner staatlichen Normierung gerahmt wird, ist dazu in der Lage, eine förderliche, kreative und lebensdienliche Zukunftsorientierung für unsere Gesellschaft zu schaffen.
Ja, die Freiheit ist unser besonderer Schatz und die Grundlage einer offenen Gesellschaft. Steht in dieser Krise dieser Motor unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts und unserer Demokratie in Gefahr? Bürgerinnen und Bürger sollen ja teilweise gezwungen, teilweise „alternativlos freiwillig“ auf alltägliche Freiheiten verzichten. Welche Tiefenwirkungen haben diese Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens im Hinblick auf die Zukunft?
Gewiss lässt sich vieles in dieser volatilen Zeit überhaupt noch nicht absehen; zukünftige Entwicklungen lassen sich in Bezug auf soziale, wirtschaftliche und politische Konsequenzen überhaupt nicht prognostizieren. Das mühsam zusammengebaute Haus des auf Wachstum ausgerichteten Miteinanders wankt aktuell zu stark. Jedoch: Freiheit ist und bleibt die bedeutsamste Säule menschlichen Lebens. Sie lässt sich zwar für eine gewisse Zeit unterbinden, aber sie drängt sich dann doch immer wieder an die Oberfläche. Oder um es mit einem kraftvollen biblischen Wort aus dem Galaterbrief zu sagen:
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5,1)
Dieser Aufruf ist die „Magna Charta der christlichen Freiheit“, wie immer wieder gesagt wird. In ihr wird die Freiheit zu einer ungemein schöpferischen Energie erklärt, zu einer Energie, die die Gemeinschaft positiv zu verändern vermag – und Paulus hat Recht. Die Freiheit ist das Wesensmerkmal des Menschen, der zur neuen Schöpfung gehört. Der Freiheit gehört die Zukunft, wenn es um ein gutes Leben geht – so die Botschaft des Apostels Paulus.
Aber: Wahre Freiheit ist kein naturgewachsenes Eigentum oder selbstverständliches Besitztum des Menschen, sondern immer eine zugesprochene Freiheit. Zu diesem wunderbaren Schatz muss der Mensch erst befreit werden. Nur so dient Freiheit der Gemeinschaft und eröffnet sie Zukunft. Ansonsten verkommt Freiheit zu einem „Joch der Knechtschaft“, mit der jede und jeder das durchzusetzen versucht, was sie oder er für sich selbst zum Gesetz erklärt hat. Das kostbarste Gut menschlichen Zusammenlebens, also die Freiheit, verliert dann seine lebensförderliche Kraft und Dynamik.
Dies gilt es gerade in solchen Krisenzeiten zu bedenken. Nur so lassen sich nämlich die Dilemmata, mit denen wir es aktuell zu tun haben, bearbeiten:
Ja, die Bewegungsfreiheit wird gerade massiv eingeschränkt, aber diese Maßnahme dient ja dem Zusammenhalt einer Gesellschaft, die nicht an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geraten soll. Wer diese Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zusammendenken kann mit einem geradezu vorbildlichen Rechtsstaat, in dem wir leben, verliert sich nicht in einem Negativmodus, sondern hält sich an die eingeschränkten Freiheiten.
Ja, dem Robert-Koch-Institut werden Bewegungsdaten von Handys aktuell zur Verfügung gestellt, um daraus Schlüsse für die weitere Verbreitung des Virus ziehen zu können. Diese Vorgehensweise sorgt für präzisere Prognosen und eine bessere Planbarkeit bei der Bewältigung der gegenwärtigen Krise. Das Vertrauen darin, dass alle Daten anonymisiert weitergegeben werden, sollten wir schon haben – denn der Datenschutz ist gerade hierzulande ein sehr gut geschütztes Gut. Wer hinter solchen Vorgängen den freiheitsraubenden Überwachungsstaat wittert, befindet sich auf einem Irrweg. Freiheit und Rechtsstaat sind nämlich zwei Seiten einer Medaille. Die Freiheit ist nur darum solch ein Schatz, weil es zugleich einen Rechtsstaat gibt, der unsere Grundfreiheiten absichert.
Ja, die normalen Geschäfte und auch die geliebten Cafés werden „zugesperrt“ und die Freiheit des Einkaufens und Genießens eingeschränkt. Wer – am liebsten im vertrauten Miteinander und im Namen der Freiheit – darüber jammert, dass ihr oder ihm durch die Corona-Sperre der Lieblingsladen genommen wird, trägt doch aktiv dazu bei, dass diese temporären Beschränkungen der Freiheit noch länger dauern werden. So wird die Freiheit zum „Joch der Knechtschaft“. Denn: Hinter der allseits geschätzten Freiheit stehen auch diejenigen, die dazu beitragen, dass im Notfall unsere Freiheit bewahrt bleibt: Die Polizistinnen und Polizisten, die Pflegerinnen und Pfleger, die Ärztinnen und Ärzte. Auch in ihren Namen gilt es, die Einschränkungen der Freiheitsrechte nicht als Behinderung zu begreifen, sondern lediglich als das, was sie sind: nämlich um zeitlich begrenzte Maßnahmen, die einmal ein Ende haben werden. Wir sind eben zur Freiheit befreit, und sie ist kein Gut in menschlicher Allmachtsverfügung.
Bei allen Dilemmata und in allen Einsamkeitsmomenten können wir Gott darum bitten, dass er uns behüte und bewahre. Denn Gott weiß doch, dass wir uns in einer Krise befinden, die alles durcheinanderwürfelt. Und er ist es auch, der uns Freiheit befreit – immer wieder neu. In der Krise und dann ganz besonders nach der Krise. Dann brauchen wir die kostbare, zugesagte Freiheit erst recht, um wieder Zutrauen zum öffentlichen Leben, zum freien Diskurs und zum Suchen nach visionären Überlebensstrategien zu finden.