Die Haltung oder den Wert der „Ehrfurcht vor dem Leben“ einzuüben und zu leben, ist mehr denn je unsere aktuelle Herausforderung. Denn: Der sogenannte „Klimawandel“ mit seinen lebensvernichtenden Folgen ist gegenwärtig. Massiv. Täglich. In vielfältigen, erschreckenden Bildern und Berichten. Keine und keiner kommt mehr darum herum. Aber sollten wir hier nicht schon bei der Wortwahl sorgsamer sein? Denn handelt es sich wirklich noch um einen „Klimawandel“? „Wandel“ – das alles klingt allzu verharmlosend: Denn wer kann schon etwas gegen einen „Wandel“ haben? Also: Befinden wir uns nicht vielmehr mitten in einer handfesten, bedrängenden und allgegenwärtigen „Klimakrise“?
In der Mitte der christlichen Botschaft geht es um „Leben in der Fülle“, um Jesu Wort: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ Deswegen ist in christlicher Perspektive hier Redlichkeit und Ehrlichkeit erforderlich, auch ein sorgsamer Umgang mit prägenden Worten. Die eingangs gestellte Frage sollten wir deswegen bejahen: Ja, wir stehen mitten in einer Klimakrise. Denn hier gilt es, nichts zu beschönigen, nichts klein zu reden oder zu beschwichtigen. Nur derjenige, der die Realität anerkennt, weiß auch, was an nötigen Veränderungen ansteht. Es ist eben nicht das uns schützende Klima, das vor der Aufgabe des „Wandels“ steht, sondern die Menschheit und damit jede und jeder von uns. Zu Recht heißt es im Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats zur Globalen Umweltveränderungen“: Das kohlestoffbasierte Weltwirtschaftsmodell ist ein „normativ unhaltbarer Zustand“, denn es gefährdet die „Stabilität des Klimasystems und damit die Existenzgrundlagen künftiger Generationen“. Der Wandel, die Transformation der Menschheit hin zu einer klimaverträglichen Lebensweise ist „daher moralisch ebenso geboten wie die Abschaffung der Sklaverei und die Ächtung der Kinderarbeit.“
Die Kirchen und die christliche Sozialethik haben in diesem Kontext eine doppelte Aufgabe:
Auf der einen Seite stehen sie in der Pflicht, als Vorreiterinnen einer veränderten, gewandelten oder transformierten Lebensweise voranzugehen. Sie haben dafür mit praktischen Beispielen zu werben, dass eine nachhaltige Lebensweise möglich ist. Diesen Weg gehen wir in der Evangelischen Akademie konsequent: Hier können unsere Gäste buchstäblich schmecken, dass eine solche zukunftsfähige Lebensweise etwas Wunderbares ist. Die „Ehrfurcht vor dem Leben“ macht auch in der Küche nicht halt. Nachhaltig zu leben, heißt eben nicht, in „Sack und Asche“ zu gehen oder nur „Brot und Wasser“ zu sich zu nehmen. Wenn Kirchen hier zögerlich sind, stellen sie den lebensbejahenden Ernst des Evangeliums, von dem sie doch getragen werden, genauso in Frage, als wenn sie christusvergessen in die Zukunft blicken würden.
Auf der anderen Seite ist es Aufgabe der Kirchen und der christlichen Sozialethik, den nötigen geistigen „Brennstoff“ für eine nicht-kohlenstoffbasierte Lebensweise bereitzustellen und damit den Wandel hin zu Klimaverträglichkeit zu ermöglichen. Denn es geht auch um fundamentale Fragen der Einstellung, der Haltung und des Geistes und eben nicht nur um technische Fragen. Es lässt sich leicht zeigen, dass die biblische Aufforderung „Füllet die Erde und macht sie euch untertan!“ in ihrem Sinn verkehrt wird, wenn sie instinktiv zur Beherrschung, Ausnutzung und Dienstbarmachung allen kreatürlichen Lebens und der natürlichen Ressourcen herhalten muss. Dass es dazu leider gekommen ist, werden die Kirchen rückblickend als Schuld anerkennen müssen. Aber genauso müssen sie dagegenhalten, dass es bis heute wunderbare, andere und inspirierende Sichtweisen einer umfassenden „Ehrfurcht vor dem Leben“ gibt. Davon sei nun die Rede:
Der Apostel Paulus hört die gesamte Schöpfung „seufzen und sich ängstigen“ (Röm 8). Die Gemeinschaft auf der ganzen Erde, alle lebenden nicht-menschlichen Kreaturen, sind genauso erlösungsbedürftig und erlösungswürdig wie wir Menschen. „Die Schöpfung ist unterworfen der Vergänglichkeit […], doch auf Hoffnung hin. Denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“ Die verheißene „herrliche Freiheit“ gilt der ganzen Erde, allen Lebewesen, und sie kann nur inmitten dieser Welt erlebt werden.
Mit-Arbeiten am Handwerk der „herrlichen Freiheit“ für alles, was lebt, nicht herrschen über alles Lebendige: So versteht Martin Luther deswegen die Aufgabe des Menschen. Gott hat den Menschen darauf ausgerichtet, „dass er jedermann diente und niemanden schädlich werde. Dieses Bild müssen wir auch tragen und ihm gleichförmig werden.“ Martin Luther hütet sich jedoch davor, den lediglich mit-arbeitenden Menschen mit leuchtenden Augen anzusehen: Er benimmt sich nämlich im „Haus der Welt“ wie eine „Sau im Hafersack“. „Ists nicht ein verdrießlich Ding um die verfluchte Undankbarkeit und Blindheit der Menschen, die Gott mit so reichen großen Wundertaten überschüttet?“ Aber auch hier hat Gott vorgebaut: Die Erhaltung der Welt und alles Lebens ist immer noch sein Werk, auch dadurch, dass er die „oikonomia“, den Hausstand geschaffen habe. In den regionalen oder lokalen Bezügen muss und wird sich dann auch zeigen, wie das begrenzte, sparsame Handeln des Menschen zur Verwirklichung der „herrlichen Freiheit“ aussieht und wie der Mensch zur Ehrfurcht vor den „reichen großen Wundertaten“ Gottes zurückfindet. Überraschend nachhaltig und modern kommt so der Reformator daher!
Ihre sprachliche Neufassung findet die Achtung der „reichen großen Wundertaten Gottes“ bei Albert Schweitzer mit seinem Leitbild der „Ehrfurcht vor dem Leben“: „Wird der Mensch denkend über das Geheimnisvolle seines Lebens und der Beziehungen, die zwischen ihm und dem die Welt erfüllenden Leben bestehen, so kann er nicht anders, als daraufhin seinem eigenen Leben und allem Leben, das in seinen Bereich tritt, Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen und diese in ethischer Welt- und Lebensbejahung zu betätigen. Sein Dasein wird dadurch in jeder Hinsicht schwerer, als wenn er für sich lebte, zugleich aber auch reicher, schöner und glücklicher. Aus Dahinleben wird es jetzt wirkliches Erleben des Lebens.“ In Weiterführung der reformatorischen Einsichten erweitert sich der Humanismus zum Universalismus. Albert Schweitzer betont, wie unverzichtbar die innere Haltung ist, alles Leben als heilig anzuerkennen – auch dasjenige, was vom kulturell geprägten Standpunkt des Menschen aus als minderwertig erscheint. Eine Schädigung des Lebens kann nur gebilligt werden, wenn dies als Opfer dem Erhalt anderen Lebens notwendig dient. Albert Schweitzer hat mit diesem Leitbild in christlicher Perspektive dazu aufgefordert, die existentielle und dualistische Trennung von Natur und Mensch zu überwinden.
Fast zeitgleich mit Albert Schweitzer war es der Bad Boller Theologe Christoph Blumhardt, der ebenfalls davon überzeugt war, dass sich vor Gott die Missachtung der Erde nicht mit der sozialen Botschaft verträgt: „Die Harmonie zwischen Menschen und Natur muss kommen. Dann findet jeder seine Befriedigung. Und das wird die Lösung der sozialen Frage sein.“ Im Kurhaus Bad Boll führte Christoph Blumhardt Ende des 19. Jahrhunderts aus diesem Grund zeitweise ausschließlich vegetarische Nahrung ein. Mit diesem Wandel der Lebensweise konnte er sich damals nicht durchsetzen; die Gäste opponierten gegenüber einer dauerhaft vegetarischen Ernährung. Aber seine Beobachtung und Aufforderung aus dem Jahr 1903 bleibt: „Die Natur ist der Schoß Gottes. Aus der Erde wird Gott uns wieder entgegenkommen. Aber es ist noch so, dass wir gar keine Gemeinschaft mit der Natur haben. Wir bewundern sie, treten sie aber vielfach nieder, nützen sie in unvernünftiger Weise aus. So steht uns die Natur noch eiskalt gegenüber, fühlt sich uns fremd. Da muss etwas anderes kommen.“
Heute gilt es, solche Überlegungen und Leitbilder weiterzudenken und diese theologischen Traditionen weiterzudenken. Jürgen Moltmann bringt es so auf den Punkt: Heute müsse das christliche Liebesgebot erweitert werden. An die Stelle von „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“ sollte heute das Gebot treten: „Du sollst diese Erde lieben wie Dich selbst.“
Ja, an solche theologischen Traditionen anknüpfend müsste es möglich sein, einen Beitrag zum Wandel der Haltung und der Einstellung zu erzeugen. Wir brauchen sie nötiger denn je. Allein von ihr geht die Kraft aus, den Widerständen im Alltag zu begegnen. Eine neue Empfindsamkeit, die das Lebensschädigende in den alltäglichen Handlungen entdeckt und überwindet, ist erforderlich. Das beginnt dann mit dem Gang zur Fleischtheke oder mit dem alltäglichen Gebrauch von Gütern, und es endet bei der maßlosen, auf Wachstum ausgerichteten Reichweitenvergrößerung des Menschen auf diesem Planeten. Eine andere Welt ist möglich, in der die Ehrfurcht vor dem Leben das Sagen hat. Danach zu suchen und diese gewandelte Haltung konkret werden zu lassen, ist unsere Aufgabe. Denn das Evangelium dient dem guten Leben, es wurde in dieser konkreten Welt voller Leben verkündigt, und die Erde ist der Lebensort, den Gott durch das Leben des gekreuzigten Auferstandenen gewürdigt hat. Darum ist die Haltung einer Ehrfurcht vor dem Leben genauso bedeutsam wie das uns tragende Christusbekenntnis. Mehr noch: Eine Achtung vor allem Leben könnte heute sogar zum wahren Christusbekenntnis werden. Dann beginnt der echte Wandel des Klimas unserer Welt.