Der Himmel über Jerusalem

Eine Betrachtung zum Pfingstfest

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Aus der Vogelperspektive

Fünfhundert Millionen Vögel bevölkern und bewölken jedes Jahr den Himmel über Beit Jala, einer kleinen Stadt südlich von Jerusalem mit überwiegend christlicher Einwohnerschaft. Diese und andere Gegenden Israels gehören zu einer der weltweit größten Transitrouten von Vogelschwärmen auf ihren Zügen über Kontinente hinweg. Über vierhundert verschiedene Arten hat man hier registriert. Sie überfliegen das Land in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Höhenlagen. Und jedes Jahr nimmt die Landschaft unter ihnen wieder andere Gestalt an: Palästinensische Wohnviertel, jüdische Siedlungen, Felder und Dachgärten, Barracken, Barrieren, Schnell- und Umgehungsstraßen.

Aus dieser Vogelperspektive beginnt der Roman Apeirogon des irischen Schriftstellers Colum McCann. Dann tauchen wir mit ihm ein in die prismatisch erzählte Geschichte zweier Väter, die beide in den blutigen Dauerkonflikten dieses Landes eine Tochter verloren haben: Bassam, der Palästinenser, Rami, der Jude. Apeirogon – eine geometrische Figur mit unendlich vielen Seiten. Der Nahostkonflikt – ein scheinbar endloser, erbitterter Widerstreit zahlloser Geschichten, unzähliger unterschiedlicher Sichtweisen auf die Dinge. Vierhundert verschiedene Vogelarten am Himmel. Die Friedenstaube lässt sich leider nur selten blicken. In diesen Gegenden scheint sie eine scheue, sogar eine flüchtige Spezies zu sein.

Lockdown der Angst

Am Pfingsttag, so schildert es Lukas in seiner Apostelgeschichte, erfüllt ein gewaltiges Stürmen und Brausen vom Himmel das Haus, in dem die Jünger_innen Jesu beieinander sind. „Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen“, heißt es weiter (Apg 2,3). Feuerzungen über Jerusalem also. Die aktuellen Bilder aus Gaza, aus Aschdod, aus Tel Aviv vor Augen, sähe man heute lieber Federn fallen. In diesen Tagen aber bewölken statt Vogelschwärmen tödliche Geschosse den Himmel.

Drehen wir die Zeit noch einmal 50 Tage zurück: Auch am Abend jenes ersten Wochentags, der einmal zum Ostersonntag werden wird, sitzen die Jünger_innen hinter verschlossenen Türen zusammen. Ein Lockdown der schlimmsten Art, denn die Angst regiert. „Aus Furcht vor den Juden“, erklärt der Evangelist Johannes (Joh 20,19). Als ob es nicht ebenso Juden wären, die da zusammenkauern! Bei aller Wertschätzung dieses Evangeliums – hier wirkt Sprache toxisch. Hier bildet sich schon jenes Giftgebräu aus Geschichten und Gerüchten über „die Juden“. Durch die Blutspur der Jahrhunderte hindurch wird es in die Katastrophe der Shoah münden und noch die gegenwärtigen Konflikte tränken.

„Friede sei mit euch!“, so ausgerechnet grüßt der Auferstandene die Angstverschlossenen. Er zeigt ihnen seine Hände und seine Seite. Die Worte und die Wunden des Juden Jesus, grausam oft überhört und übersehen, verleugnet und verraten. „Friede sei mit euch?“ – Menschen zu beiden Seiten der Fronten kauern hinter verschlossenen Türen, in Kellerräumen und Luftschutzbunkern, suchen Schutz vor Feuer, das vom Himmel fällt. Und viele kennen und sprechen nur noch den eigenen Zungenschlag des Hasses und der Furcht.

Mit fremden Zungen

„Alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt. Sie begannen, in fremden Sprachen zu reden – ganz so, wie der Geist es ihnen eingab“ (Apg.24). Keine Rede mehr vom Haus, in dem die Jünger_innen saßen. Als ob auf einmal keine Schlösser, Türen, Wände mehr wären, nur noch entgrenzter Raum, enthemmte Zungen, entschlossen von der Energie des Geistes, verstört vom Wunder eines neuen Hörens und Verstehens. Lukas lässt es sich nicht nehmen, in einer langen Liste aufzuzählen, aus welchen Gegenden der Welt hier Menschen unter dem offenen Himmel von Jerusalem zusammenfinden. An dem, was sie hören und sehen, scheiden sich die Geister zwischen Staunen, Verwirrung und Spott.

Bassam der Palästinenser, Rami, der Jude: Zwei Geschichten, zwei Schicksale aus einem Land, das man das „Heilige“ nennt. Es gibt sie wirklich, diese zwei. Beide sind Mitglieder der israelisch-palästinensischen Aktivistenorganisation Combatants for Peace, die 2017 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. Colum McCann hat den Verlust, den sie erfahren haben und das Wunder der Verständigung, das sie vollbringen, also nicht erfunden. Aber er hat ihre Geschichte verwoben, umgarnt und angereichert mit vielen Perspektiven, vielen Stimmen und Schreien aus diesem leid- und doch hoffentlich noch immer verheißungsvollen Land.

Apeirogon – eine Form mit unzählig vielen Seiten. Israel – ein Staat mit zahllosen verschiedenen Gesichtern und Geschichten. Mit fremden Zungen reden und den anderen verstehen, das lernt sich, wenn nicht gerade der Himmel sich auftut, eher nur in Jahren und Jahrzehnten. Was hilft und wie gelingt es, verschlossene Türen zu öffnen? Vielleicht noch immer am ehesten so (und davon erzählt der Roman von Colum McCann): Dem Anderen deine offenen Wunden, deine Verletzungen zeigen, deine Hände, deine Seite. Deine Geschichte erzählen, aber auch der Geschichte des Anderen zuhören. Und so den Anderen mit diesen schlichten, manchmal aber schwierigsten Worten begrüßen: „Friede sei mit Dir!“

Der Theologe Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring ist Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theologie, Digitalisierung der Kommunikation sowie Kultur. Zudem lehrt er seit 2001 im Bereich Praktische Theologie an der Universität Basel/CH.