In Baden-Württemberg sind es mittlerweile fast sieben Prozent, in Großbritannien 35, in den USA 25 Prozent – die Zahl der gegen Corona Geimpften. Täglich wird mir in meiner Tageszeitung die Liste vor Augen geführt, wer international an welcher Stelle steht und wer am besten mit der Impfkampagne vorankommt. Und alle sind der Hoffnung: Bis zum Sommer wird jede und jeder hierzulande ein Impfangebot erhalten. Versprechen dieser Art habe ich in letzter Zeit häufiger gehört, und da so manches sich dann doch in jüngster Vergangenheit anders darstellte, bin ich skeptischer und vorsichtiger geworden, ob es wirklich so kommt.
Aber das ist nicht mein Punkt. Mehr geht es mir um eine andere Frage: Was dürfen Geimpfte denn nun mehr und anders als Nicht-Geimpfte? Die gesellschaftliche Diskussion dazu nimmt aktuell ja an Fahrt auf. Immer wieder höre ich ein Argument: Es geht doch um Solidarität der Geimpften mit den Nicht-Geimpften. Deswegen solle es keinen Impfausweis geben, keine Vorrechte für Geimpfte beim Besuch von Restaurants, Theatern und Kinos. Die Geimpften sollten doch bitteschön warten, bis der größte Teil der Bevölkerung immun ist – und dann kann es gemeinsam wieder los gehen. Eben in Solidarität miteinander.
Je mehr ich darüber nachdenke, überzeugt mich dieses Argument nicht mehr. Gibt es nicht auch eine Solidarität in die andere Richtung, quasi eine Solidarität von unten nach oben? Kann es nicht auch denkbar sein, dass sich die Nicht-Geimpften solidarisch zeigen mit den Geimpften und ihnen ohne jeden Neid wieder die Freiheit zugestehen, sich ohne Einschränkungen in der offenen Gesellschaft bewegen zu können? Und gibt es nicht auch eine Solidarität der Nicht-Geimpften mit denen, die so lange unter dem Lockdown wirtschaftlich bis an den Rand ihrer Möglichkeiten gelitten haben: den Gastwirten, den Musiker_innen, den Kultureinrichtungen, den Bildungshäusern? Gebührt nicht auch ihnen eine Solidarität in der Form, dass wir uns solidarisch mit ihnen freuen, wenn sie durch Geimpfte wieder Einnahmen erzielen und sich präsentieren können? Warum muss Solidarität immer nur eine Norm sein, die zur Anwendung kommt, wenn es um fehlende Privilegien geht?
Und noch eine andere ethische Fragestellung beschäftigt mich in diesem Zusammenhang: Dürfen wir in diesen anstrengenden Zeiten die Freiheitsrechte weiterhin für alle so weit einschränken, dass selbst diejenigen, die keine Gefährdung für unser Gesundheitssystem im Blick auf eine schwere Erkrankung darstellen, ihre Freiheitsrechte nicht wahrnehmen können? Ist dies nicht in einer freien Gesellschaft ein systemwidriger Eingriff in Grundrechte? Ich halte dies jedenfalls mittlerweile für einen äußerst problematischen Schritt, wenn wir so verfahren sollten – gerade dann, wenn es um Zusammenhalt unserer durch die Pandemie gefährdeten offenen Gesellschaft geht.
Also: Warum nicht vorsichtige Öffnungen dort zulassen, wo es möglich ist und dies mit einem Nachweis der erfolgten zweiten Impfung koppeln? Es geht eben um gelebte Solidarität in unserer Gesellschaft – und diese umfasst auch die Solidarität gegenüber den Geimpften sowie auch gegenüber denjenigen, die über viele Monate hinweg keine Einnahmen erzielen konnten.
Was meinen Sie zu dieser Debatte? Was ist für Sie Solidarität? Halten Sie meine ethische Argumentation für tragend? Was denken Sie, was hat Sie bisher überzeugt?
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