Nachhaltigkeit und Martin Luther
Was haben der moderne Nachhaltigkeitsdiskurs und Martin Luther gemeinsam? Wenig, so scheint es. Martin Luther lebte in einer Zeit, in der es noch keinen Klimawandel gab und die Industrialisierung noch lange nicht begonnen hatte. Was Martin Luther zur Schöpfungslehre und damit zu einem wesentlichen Anknüpfungspunkt des Nachhaltigkeitsdiskurses zu sagen hat, ist heute wenig bekannt. Erst recht ist es nicht flächenwirksam geworden. Dies ist zu bedauern, denn beim näheren Hinsehen könnte sein Verständnis der Schöpfung hilfreich sein für eine Vision von morgen!
Martin Luthers Schöpfungslehre hält fünf Überraschungen bereit, die hier dargestellt werden . Sie sind herzlich dazu eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen und mir eine Rückmeldung zukommen zu lassen.
Akademiedirektor Prof. Dr. Jörg Hübner
Erste Überraschung: Schöpfung im Werden
Im Gegensatz zur Scholastik vertritt Martin Luther mit Entschiedenheit in der Schöpfungslehre die Vorstellung von einer "creatio continua": Die göttliche Schöpfung ist für ihn ein einziger Akt des Bauens und Schaffens, der an kein Ende stößt und auch jetzt noch weitergeht. Gott als der Schöpfer und Allmächtige ist nicht
"eine stillruhende Macht, wie man von einem zeitlichen Könige sagt, er sei mächtig, ob er schon still sitzt und nichts tut, sondern eine wirkende Macht und stetige Tätigkeit, die ohn Unterlass geht im Schwange und wirkt. Denn Gott ruhet nicht, wirkt ohne Unterlass" (WA 7,574).
Zweite Überraschung: Der Mensch als Mit-Arbeiter an der Schöpfung
Ist die Schöpfung noch am Werden, hat sie auch ein Ziel - und der Mensch eine konkrete Aufgabe. Pointiert kann Martin Luther den Menschen als "cooperator Dei", also als Mitarbeiter Gottes am Schöpfungswerk Gottes beschreiben. Zum täglichen Auf und Ab der Schöpfung gehört der Mensch hinzu - jedoch niemals als Macher oder Lenker, sondern lediglich als Mit-Arbeiter am göttlichen Schöpfungswerk. Martin Luther weiß um die begrenzte Reichweite des menschlichen Schaffens. Mit einem solchen Ansatz lässt sich die aktuelle Diskussion um das Vorhandensein von "planetarischen Grenzen" durchaus in Verbindung bringen, ohne die menschliche Tätigkeit zu entwerten.
Martin Luther: "Denn es ist etwas Gottloses und ein Sakrileg, wenn wir, die wir Werkzeuge und Zweitursachen sind, uns vermessen, Erstursachen und Hauptursachen zu werden. Die Axt muss nicht der Bauer sein und die Feder nicht der Schreiber. Gott will Gott bleiben ... Ich bin der Macher, spricht er, ihr seid nur die Mitarbeiter, nicht die Urheber." (WA 7,574)
Dritte Überraschung: Die Bewahrung der Schöpfung vor ihrer Zerstörung
Auch wenn es dem Menschen angemessen ist, lediglich als Mit-Arbeiter Gottes zu wirken, tut er sich zu oft als "Sau im Hafersack" (Martin Luther) hervor, der in allem Geschaffenen herumwühlt, das meiste zertritt und ansonsten alles frisst, was ihm vor die Schnauze kommt. Martin Luther spart nicht an bildreichen Beschreibungen, um die menschliche Überheblichkeit zu beschreiben. Aber er rechnet auch damit, dass Gott dem grenzenlosen und selbst-zerstörerischen Verhalten des Menschen gegenüber allem Kreatürlichen Grenzen gesetzt hat. Zum Schutz des Menschen vor sich selbst hat Gott nämlich drei Stände geschaffen: den Hausstand (oeconomia), die Kirche (ecclesia) und die Obrigkeit (politia). Die Erhaltung der Schöpfung liegt nicht in der Hand des Menschen, sondern für sie hat Gott vorgesorgt.
Vierte Überraschung: Die zentrale Rolle des Hausstandes in Luthers Schöpfungslehre
Der für die Erhaltung der Schöpfung zentrale Stand, um den herum sich die anderen Stände legen, ist für Martin Luther der Hausstand, die "oeconomia". Der sich grenzenlos verhaltende Mensch findet in seinem Hausstand, also in seinem lokalen und überschaubaren Lebensbereich, zu seinem wahren Sein als Mit-Arbeiter Gottes immer wieder zurück. Den regionalen Wirtschaftskräften, den genossenschaftlichen Organisationen oder den lokalen Kreisläufen kommt nach Martin Luther eine zentrale Rolle zu, wenn es um ein Handeln im Rahmen des göttlichen Auftrags zur Erhaltung der Schöpfung geht.
Fünfte Überraschung: Die anthropologische Zuspitzung der Schöpfungslehre
"Die" Schöpfung an sich gibt es für Martin Luther nicht, sondern lediglich eine dem Menschen zugeordnete Schöpfung. Der Mensch solle sich in allem Positiven auf den Schöpfer berufen "und nicht allein dafür, dass er`s geschaffen hat, sondern auch dafür, dass er alles uns zu Dienst und Nutz geschaffen hat. Sonne und Mond müssen uns leuchten Tag und Nacht, der Himmel muss uns Regen, Wolken, Schatten und Tau geben, die Erde muss uns allerlei Gewächs und Tier geben, die Wasser müssen uns Fische und unzählige notwendige Dinge geben, die Luft muss uns Vögel und den Atem geben, das Feuer muss uns wärmen und unzähligen Nutzen geben". Martin Luther hat in einer ungewöhnlich modern anmutenden Art und Weise damit gleichsam vom Anthropozän gesprochen - aber nicht in seiner bedrohlichen Variante, sondern in einer Mut machenden Vorstellung.