Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit ist heute in aller Munde; es kann geradezu von einem inflationären Gebrauch des Begriffs gesprochen werden. Was aber ist nun genau mit diesem entscheidenden Leitbild der Postmoderne gemeint?
Meine These lautet: Nachhaltigkeit ist als ein Set von Aufforderungen zu einer gewandelten, postkapitalistischen Welt-Wahrnehmung und zum Umgang mit Welt verstehen. Dabei lassen sich diese Wahrnehmungsaufforderungen sehr präzise bestimmen (siehe unten). Wer Nachhaltigkeit lebt, bezieht Perspektiven in das Handeln sowie in die Argumentation mit ein, die bisher so in einer natürliche Grenzen missachtenden und zukunftsvergessenen Wirtschaftsweise nicht zum Zuge kamen. Nachhaltigkeit ist kein Zauberschlüssel und erst recht kein fertiges Konzept, sondern eher ein grober Kompass. Nachhaltige Entwicklung ist ein unvollendetes Geschäft, in dem es zu einer neuen Kultur aller Sozialpraktiken kommt.
Das Leitbild Nachhaltigkeit muss nicht, kann aber auch theologisch begründet werden. Auf jeden Fall bietet es genügend Anknüpfungspunkte, um christliche Gewissheiten mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen ins Gespräch zu bringen. Nachhaltigkeit lässt sich auch mit dem Zeugnis der Reformatoren, z.B. mit dem von Martin Luther, begründen. In seiner konkreten Ausformung verlangt das Leitbild Nachhaltigkeit im Zeitalter voranschreitender Globalisierungsprozesse nach einer Transformation der Lebens- und Wirtschaftsweise, z.B. nach einer fundamentalen Reform der Finanzmärkte.
Nachhaltige Entwicklung - das ist unter der Überschrift "Die Grenzen des Planeten respektieren" eines der sieben Schwerpunktthemen der Akademie Bad Boll, im Leitbild der Akademie verankert und zugleich Thema einer Fülle von Tagungen.
Herzliche Einladung zur Diskussion!
Akademiedirektor Prof. Dr. Jörg Hübner
Erste Aufforderung: Kapital ist mehr als Geld!
Nachhaltigkeit bezieht sich auf alle Lebensbereiche, auf die endlichen Ressourcen der Schöpfung (Ökologie), auf das tägliche Brot (Ökonomie) und auf das soziale Zusammenleben der Menschen (Soziales). Damit wird der Begriff des Kapitals implizit erweitert: Neben den Entfaltungsmöglichkeiten , die sich aus dem Finanzkapital ergeben, stehen gleichwertig die Gabe des Humanvermögens und das Wunder des Ressourcenreichtums, mit dem gleichwohl verantwortungsvoll umzugehen ist. Gutes Leben meint nicht nur, genug zum Leben zu haben, sondern dem eigenen Leben in Gemeinschaft einen anderen Sinn zu geben.
Zweite Aufforderung: Glokal denken und handeln!
Mit dem Stichwort "Glokalität" wird die ermutigende Einsicht verbunden: Im Zuge der Globalisierung sind die Chancen der Verantwortungsübernahme und der Einflussnahme durch Einzelne oder kleine Gruppen nicht gesunken, sondern gestiegen: In Netzwerken üben lokale Größen Einfluss auf globale Entscheidungsprozesse aus.
Dritte Aufforderung: Partizipative Instrumente bevorzugen!
Stakeholder-Dialoge sind ein Markenzeichen der Netzwerkkultur von morgen. Die Befreiung des Menschen aus herabwürdigenden Abhängigkeitsbeziehungen steht im Fokus einer nachhaltigen Gesellschaftsstruktur. Nachhaltigkeit verlässt das Gegenüber von "top down" und "button up" und entwickelt eine Kultur, in der die verschiedenen Prozesse iterativ aufeinander zugeführt werden.
Vierte Aufforderung: Intragenerationelle Gerechtigkeit pflegen!
Nachhaltige Entwicklung ist darauf bedacht, weltweit allen Menschen die gleiche Möglichkeit auf Verwirklichung ihrer Entwicklungschancen zuzuerkennen. Eine Bevorzugung einer Region wird überwunden; jedem Menschen steht weltweit das gleiche Nutzungsrecht der vorhandenen Gemeingüter zu.
Fünfte Aufforderung: Den Zusammenhang der Generationen bedenken!
Nachhaltigkeit als Leitbild fordert dazu auf, sich von der Bevorzugung lediglich einer Generation zu befreien und den Zusammenhang aller Generationen in den Blick zu nehmen. Nachhaltig ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der jetzigen Generation entspricht, ohne die Bedürfnisse der zukünftig Lebenden zu negieren.
Sechste Aufforderung: Langzeitorientierung gewinnt!
Vorrang hat Langzeitorientierung. Handlungen, die an kurzfristigen Renditezielen orientiert sind, stehen unter dem Verdacht, den nachfolgenden Generationen zu schaden und ihnen eine erhebliche Hypothek zu hinterlassen. Nachhaltigkeit als Leitbild befreit von dem Druck, kurzfristig und schnell Erfolge erzielen zu müssen.
Siebte Aufforderung: Den WSK-Rechten ihren gleichrangigen Platz einräumen!
Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sind im Nachhaltigkeitsdiskurs nicht die zweite Wahl neben den politischen Menschenrechten, sondern genauso bedeutsam für jede Entscheidungsfindung. Wirtschaftswachstum als Ziel an sich verliert damit an Bedeutung, wenn eine nachhaltige Entwicklung durchaus auch Wachstum implizieren kann!