Stellen Sie sich vor, Sie gehen an einem Samstagvormittag durch die Straßen einer Stadt. Alle Läden und Cafés haben geschlossen, nur wenige Fahrzeuge sind unterwegs und kaum ein Mensch ist zu sehen. Das kennen Sie vom Frühjahr 2020. In Ruanda kommt das aber jeden letzten Samstag im Monat vor. Es ist Umuganda.
Dann werden zwischen 7 und 11 Uhr die gewohnten Tätigkeiten unterbrochen. Mit Stillstand hat Umuganda aber nichts zu tun. Stattdessen kommen im ganzen Land Menschen zusammen, um gemeinsam Arbeit für Ihre Gemeinde zu verrichten. Umuganda ist ein Begriff aus der ruandischen Sprache Kinyarwanda und lässt sich frei als „Gemeinwesenarbeit“ übersetzen. Dabei werden z.B. Straßen gesäubert und Bäume gepflanzt. Es werden aber auch Ärmere unterstützt, etwa indem gemeinsam ein Haus gebaut oder ein Garten angelegt wird.
Umuganda als Ideal
Umuganda ist Teil der nationalen Vision Ruandas, die erstmals im Jahr 2000 definiert wurde und auch Nachhaltigkeitsziele verfolgt. Dazu gehört ein Verbot von Plastiktüten, das sich einige andere Länder als Vorbild genommen haben. Doch Umuganda ist mehr als nur eine kollektive Kehrwoche und geht in seinem Zweck auch über die Umsetzung der drei Säulen der Nachhaltigkeit aus Ökologie, Sozialem und Ökonomie hinaus.
Das Prinzip hat seine Wurzeln in der vorkolonialen ruandischen Kultur der Zusammenarbeit und Selbsthilfe in Gemeinden. Nach dem Genozid 1994 wurde es dann durch Präsident Paul Kagame staatlich festgelegt. Für den Wiederaufbau wurden bewusst vorkoloniale Praktiken der ruandischen Kultur neu etabliert. Beispielsweise wurde die juristische Aufarbeitung wesentlich durch eine traditionelle gemeinschaftliche Gerichtsform ergänzt, Gacaca. Mit diesem Rückgriff sollen zum einen der Gemeinsinn in der Bevölkerung gestärkt und die gesellschaftlichen Wunden des Genozids und seiner vorangegangenen Konflikte geheilt werden. Darüber hinaus hat Umuganda eine identitätsstiftende Funktion, um die (post-)kolonialen Unterdrückungsstrukturen der Vergangenheit und Gegenwart zu überwinden.
Alle Menschen, mit denen ich in Ruanda über Umuganda gesprochen habe, äußerten sich positiv über diese Einrichtung; es gab kaum Kritik. Tatsächlich habe ich viel Stolz auf diese ruandische Errungenschaft wahrgenommen. Viele sehen Ruanda hier als Vorbild für den reichen Norden und den Rest der Welt. Dieser Eindruck wird durch die Motivation und die Fröhlichkeit verstärkt, die viele Menschen bei der Arbeit ausstrahlen.
Umuganda als Propaganda
Doch erschließt sich mir durch meine weiß-privilegierte Brille das Konzept von Umuganda in seiner ganzen Komplexität oder lasse ich mich eventuell auch blenden? Ein historischer Blick zeigt jedenfalls, dass die Bedeutung von Umuganda für unterschiedliche Machtinteressen genutzt und während des Genozids sogar in ihr schreckliches Gegenteil verkehrt wurde. Auch heute geht der Tag des Umuganda mit patriotischen Appellen einher und der Präsident wird entsprechend in Szene gesetzt. Ruanda wird seit 2000 von Paul Kagame streng hierarchisch regiert, die Bevölkerung stark kontrolliert und die Presse eingeschränkt. Es muss also hinterfragt werden, ob wirklich alle Teile der Bevölkerung Umuganda so sehr unterstützen oder Kritik einfach nicht möglich ist.
Es stellt sich auch die Frage, ob die Menschen für ihre Gemeindearbeit nicht angemessen entlohnt werden sollten oder ob einige Leistungen, die durch Umuganda von der Bevölkerung erbracht werden, nicht besser durch ein etabliertes Sozialsystem übernommen werden sollten. Etwa 18 Millionen Euro wird durch die gemeinnützige Umuganda-Arbeit jährlich für das Land erwirtschaftet. Laut Regierung wird dieser Betrag in die Entwicklung des Landes investiert. Es wird dadurch begründet, dass dem armen Land schlichtweg das Geld fehle und alle einen Beitrag zur Entwicklung des Landes leisten sollten.
Umuganda beruht nicht auf Freiwilligkeit. Wer sich entzieht, wird mit Bußgeldern bestraft, die Angehörige armer Bevölkerungsschichten empfindlich treffen. Bei wiederholter Abwesenheit kann eine Gefängnisstrafe drohen. Allerdings wird auch immer wieder ein Auge zugedrückt. Manchen ist es durchaus möglich, nicht mitzumachen.
Umuganda als Vorbild?
Ich bin der Meinung, dass das Konzept von Umuganda unter bestimmten Voraussetzungen auch in Europa als Vorbild dienen kann. Erstens darf es nicht zu nationalistischen Zwecken benutzt und sollte auf kommunaler Ebene organisiert werden. Das durch Umuganda geförderte Bewusstsein einer gemeinsamen Identität hat im postkolonialen Kontext Ruandas eine ganz andere Bedeutung als es etwa in Deutschland der Fall wäre. Zweitens dürfen historisch hart errungene staatliche Sozialleistungen dadurch nicht ersetzt werden. Drittens sollte das Konzept auf Freiwilligkeit beruhen und Menschen durch Anreize und positive Beispiele zur Teilnahme motivieren. Beispielsweise könnte Umuganda auch in Europa als Feiertag eingeführt werden, an dem wir zusammen für unsere planetare Gemeinschaft arbeiten. Denkbar wäre z.B. ein monatlicher Feiertag für die Zukunft.
Unter diesen Bedingungen kann Umuganda ein geeigneter praktischer Ansatz zur Überwindung gegenwärtiger gesellschaftlicher Krisen sein. Das kollektive Aufräumen, Reparieren und Bauen kann als gemeinsames handwerkliches Ritual an der frischen Luft auch die Seele reinigen. So könnten tiefsitzende Sorgen und Ängste gelöst und der Blick auf Gegenwart und Zukunft geklärt werden. Ständig könnten wir durch die wechselnde Arbeit dazulernen. Alle könnten dabei ihr Wissen einbringen und teilen. Betätigungen an der frischen Luft wären sogar unter Corona-Bedingungen gut umzusetzen. Die gemeinsame Arbeit wirkt der zunehmenden Entwicklung von Vereinsamung entgegen. Die regelmäßige Begegnung mit vielen verschiedenen anderen Menschen kann gesellschaftliche Risse und gegenseitige Vorurteile überwinden, die durch die immer anonymer werdenden digitalen Kommunikationsformen zunehmen.
Selbst dem damit einhergehenden, weltweit empfundenen Verlust lokaler kultureller Identitäten wird dadurch entgegengewirkt. Denn mit dem Konzept werden kulturelle Wurzeln genutzt, um gesellschaftliche Wunden zu heilen, sozio-ökonomische Probleme zu mindern und die Grundlage für eine umweltfreundliche und gerechte Zukunft zu bereiten. Diese kulturellen Wurzeln der kollektiven Gemeinwohlarbeit sind in Kulturen überall auf der Welt überliefert.
Auch in Europa gibt es ähnliche Traditionen, wie beispielsweise in Norwegen die Institution des Dugnad, eines unbezahlten, freiwilligen und gemeinschaftlich ausgeführten Arbeitseinsatzes zum Wohle der Gesellschaft. Die norwegische NGO „Future in our hands“ startet diesen Monat die Aktion Klima Dugnad, die sich für eine ähnliche Grundidee wie die eines „europäischen Umuganda“ einsetzt. Auch hier im Ländle gibt es einige solcher Aktionen. Beispielsweise wird die schwäbische Kehrwoche mit der Initiative Klima-Kehrwoche vor die Haustüre gebracht. Viele weitere Aktionen lassen sich nennen, denen wir uns anschließen können. Machen wir es zu unserem Feiertag, unserem Umuganda. Machen wir es gemeinsam!
Wie im Text bereits angeklungen, gebe ich hier meine Perspektive als weißer Europäer wieder und beanspruche für mich nicht Umuganda in seiner Komplexität abbilden zu können. Leider konnte ich im Rahmen dieses Textes keine ruandischen Perspektiven zu Wort kommen lassen. Gerne nehme ich hierzu wertschätzende Kommentare und Kritik auf und freue mich über Rückmeldungen. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Umuganda empfehle ich die Dissertation der ruandischen Wissenschaftlerin Penine Uwimbabazi, die unter diesem Link (Stand September 2020) abzurufen ist.
Jörg Bohn ist seit 2019 Studienleiter im Themenbereich „Wirtschaft, Globalisierung, Nachhaltigkeit“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Umwelt, Nachhaltigkeit sowie Technologie. Die Perspektiven aus seinem Freiwilligendienst in Ruanda haben bis heute großen Einfluss auf seine Tätigkeiten.