Suizid als letzte Emanzipation?

Ein Blick auf Jean-Pierre Wils‘ Buch „Sich den Tod geben.“

© Hirzel Verlag

Über Suizid und Suizidassistenz wird in Deutschland leidenschaftlich diskutiert. Insbesondere nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 das Verbot organisierter Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärte und das Recht auf selbstbestimmtes Sterben betonte.

Mit seinem neuesten Buch „Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation“? ergreift der belgische Ethiker und Kulturwissenschaftler Jean-Pierre Wils das Wort. Dabei geht es ihm nicht um das bloße Für oder Wider. Wils, der in Nijwegen Kulturphilosophie lehrt, versucht vielmehr, die Diskussion in Deutschland auf dem Hintergrund der Entwicklungen in den Niederlanden zu beleuchten und die Überlegungen zur Suizidassistenz in einen breiten kulturellen und gesellschaftlichen Horizont zu stellen.

Lange Zeit war Suizid ein gesellschaftliches Tabuthema. Ein solches Lebensende galt als verwerflich. Vor allem in Kirchenkreisen. Obwohl in der Bibel über Selbsttötungen ohne moralische Bewertung berichtet wird, bestimmte lange Zeit eine strikte Ablehnung die theologische Deutung. Mit entsprechenden Auswirkungen: Man verweigerte Selbstmördern die gängige kirchliche Bestattung und setzte sie außerhalb der Friedhöfe bei, wurden Betroffene und Angehörige stigmatisiert und ausgegrenzt.

Heute ist Suizid ein Gegenstand humanwissenschaftlicher Forschung. Nach jüngsten Angaben des statistischen Bundesamtes nahmen sich 2019 etwas mehr als 9000 Menschen das Leben. Für den Großteil der Bevölkerung ist es nach wie vor aufrüttelnd, dass dreimal so viele Menschen durch Selbsttötung sterben wie durch Verkehrsunfälle.

Wenn jemand Hand an sich anlegt und in einem Akt der Selbstzerstörung, aus welchen Gründen auch immer, seinem Leben ein Ende setzt, ist das tragisch und stellt infrage. Für Jean-Pierre Wils wäre es eine schwierige Entwicklung, sich an die Selbsttötung anderer einfach zu gewöhnen und diese Art des Sterbens als Normalität zu betrachten. Nach seiner Einschätzung zeichnet sich aber ein solcher Trend zur Normalisierung im Rahmen der derzeitigen Diskussion um die Suizidassistenz ab.

In einem Aufsehen erregenden Urteil hatte das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020 erklärt, dass „die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen… von Staat und Gesellschaft zu respektieren“ sei (Leitsatz 1 b) der Urteilsbegründung). Das Recht auf Selbsttötung sei Ausdruck personaler Autonomie und Selbstbestimmung. Es umfasse auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe in Anspruch zu nehmen, und dürfe weder durch vordefinierte Lebenssituationen noch durch Verbote unzulässig eingeschränkt werden. Das im Jahr 2015 beschlossene „Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ (bisheriger StGB § 217) habe eine Suizidbeihilfe faktisch unmöglich gemacht.

Auch nach Meinung von Jean-Pierre Wils ist eine Liberalisierung der Sterbehilfe in Deutschland überfällig gewesen: Suizidprävention sei wichtig, dürfe sich aber nicht zu einer generellen Ablehnung der Suizidhilfe ausweiten. Doch nach Meinung von Wils schlägt das Pendel mit dem Karlsruher Urteil nun auf der anderen Seite aus.

Den Suizid eines Menschen als finale und ultimative Bestätigung seiner Autonomie darzustellen – unabhängig von medizinischen Kriterien und sozialen Kontexten, wie im Karlsruher Urteil geschehen – empfindet Jean-Pierre Wils als „unzulässige Vereinfachung“ (Wils, S. 21). Aus dem Defensivrecht, Fremdbestimmungen in Angelegenheiten, die das eigene Leben und Sterben betreffen, abzuwehren, könne sich kein Anspruchsrecht auf Suizidassistenz in jeder Lebenslage ableiten lassen. Damit drohe, aus dem Suizid als Tragik menschlichen Lebens eine „emanzipatorische Selbsttechnik“ (Wils, S. 18) zu werden. Nach allem, was man über die Begleitumstände der Selbsttötung weiß, greife es zu kurz, Suizid als eine normale Option im Rahmen der Sterbemöglichkeiten zu betrachten oder gar „als die letzte zu schleifende Bastion auf dem Weg zur Apotheose der Selbstbestimmung“ (Wils, S. 76). In der Urteilsbegründung sei dagegen zu beobachten, dass sich das Autonomieprinzip als ein konkurrenzloses Begründungsmuster durchziehe. Dem gegenüber seien sozialethische oder auf die Gemeinschaft bezogene Argumente nahezu chancenlos.

Die Sätze und Zitate machen deutlich: Ein prinzipieller Befürworter der Sterbehilfe stellt grundsätzliche Anfragen an die Begründungsmuster und Argumente der laufenden Debatte in Deutschland. Mit seinem Beitrag will Jean-Pierre Wils nicht die Lagerbildung befeuern. Dem Kulturphilosophen geht es vielmehr um eine Kontextualisierung des Themas. Er fragt nach den gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen: Könnte ein unbedingtes und infrastrukturell bestens umsetzbares Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht auch den Druck erhöhen, schnell und erwartungsgemäß die vermeintlich vernünftige Entscheidung für den Suizid zu treffen? Zumal in einer Welt, in der Selbstwirksamkeit, Selbstoptimierung und Verfügbarkeit die gängigen Maxime sind? Was bewerkstelligt die Dominanz des Autonomieprinzips im Hinblick auf die Kohärenz der Gesellschaft? Wie sicher können wir sein, dass sogenannte autonome Entscheidungen nicht das Ergebnis eines Konformismus in Sterbeangelegenheiten sind? (vgl. Wils, S. 105)

Wils‘ Fazit lautet: Was wir derzeit als neues Kapitel in der Suizidbewertung erleben, ist nicht nur befreiend, sondern auch nicht ungefährlich: „Der Suizid gerät gewissermaßen in die Nachbarschaft der normativen Erwartung, seine Möglichkeit rechtzeitig in Erwägung zu ziehen und den Zeitpunkt seiner Realisierung nicht zu verpassen“ (Wils, S. 107). Das aber bleibt nicht folgenlos: „Die Normativität der Sterbehilfe frisst die Normalität des Lebens langsam auf“ (Ebd.)

Veranstaltungshinweis: Am Donnerstag, 23. September 2021, 19:30-21:00 Uhr veranstalten der Hirzel-Verlag, der Hospitalhof und die Evangelische Akademie Bad Boll einen Abend mit Jean-Pierre Wils im Hospitalhof in Stuttgart. Herzliche Einladung zur Lesung mit Gespräch über das Buch „Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation“. Infos und Anmeldung: https://www.hospitalhof.de/programm/230921-sich-den-tod-geben/

Der Theologe Dr. Dietmar Merz ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medizinethik und Gesundheitspolitik.

Seitdem das Gesetz zur assistierten Selbsttötung im Februar 2020 vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde, beschäftigt sich Dr. Dietmar Merz in regelmäßigen Beiträgen intensiv mit der Thematik:

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