Seit einigen Wochen sind in Kemnat, meinem Wohnort, weiße Fahnen zu sehen. Wer von der Senke des Körschtals steil bergauf sich den ersten Häusern nähert, sieht sie von weitem und fährt gleichsam unter ihrem Geleit in den Ort. Selbst dem flüchtigen Fahrerblick stellt sich dann womöglich die Frage: Was soll das?
Der Kemnater Künstler Klaus Illi erinnert mit dieser Aktion, die noch bis zum 8. Mai, dem Datum des Kriegsendes vor 75 Jahren, zu sehen ist, an diese welthistorische Wende. Ein Ereignis, dass derzeit unter den Vorzeichen der Corona-Krise wenig Aufmerksamkeit findet. Zu Unrecht: Es lassen sich – und auch das ist eine Intention des Künstlers – durchaus Bezüge zwischen den damaligen Ereignissen und unserer heutigen Krisensituation herstellen. Illis Initiative wurde mittlerweile in verschiedenen Teilorten Ostfilderns aufgegriffen. Auch Kirchengemeinden beteiligen sich an dieser Aktion. Zugleich sind auch Privatpersonen aufgerufen, aktiv zu werden und in den kommenden Tagen selbst ‚weiße Fahnen‘ zu hissen. Das können auch „Betttücher, Handtücher oder weiße Kleidungsstücke sein“, erläutert Klaus Illi.
Mit dieser symbolischen Aktion wird also erinnert an sehr reale Geschehnisse im Frühjahr 1945. Vielerorts begrüßte damals die Bevölkerung die einmarschierenden Truppen mit weißen Wäschestücken – teils unter Lebensgefahr, weil gegen ausdrückliche Befehle des kollabierenden, aber bis zuletzt verblendeten Naziregimes. Nicht nur in Kemnat sollen französische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter mit weißen Fahnen auf die anrückenden gegnerischen Soldaten zugegangen sein und damit eine Eskalation der Lage mit weiteren Toten und Verletzten verhindert haben. Auch von anderen Städten wie Lorch wird ähnliches berichtet – das hier zu sehende linke Bild, dessen Urheberschaft bisher nicht geklärt werden konnte, ist wohl 1945 Ende April oder Anfang Mai in Berlin entstanden.
In jenen Tagen wurde weiß zum Signal der Befreiung vom braunen Terror, zum hellen Hoffnungszeichen nach bitterschwarzen Tagen von Krieg und Zerstörung, zu einer Farbe des Friedens und des Neubeginns. Klaus Illi interpretiert die Gegenwartsbedeutung dieser Farbe und seiner Aktion so: „In Deutschland konnte die weiße Fahne der Kapitulation am Ende des 2. Weltkriegs nur unter Lebensgefahr gehisst werden, mittlerweile ist sie zum Zeichen der Befreiung vom Nationalsozialismus geworden. Auf Gegenwart und Zukunft bezogen ist das zeigen der weißen Flagge auch ein Zeichen gegen innergesellschaftlichen Hass und Gewalt und steht für Zivilcourage, Demokratie und Frieden. In Zeiten der Corona-Krise und des Stillstandes mutiert sie möglicherweise auch zum Zeichen der Solidarität, des Nachdenkens, der Veränderung.“
Weiß ist im physikalischen Sinn mehr als eine Farbe. Es ist das Integral, die Summe aller Farben, in denen die Wirklichkeit das Spektrum des Lichts zerlegt. Weiß, schreibt eine Farbpsychologin, „ist die vollkommenste aller Farben. Es gibt kaum einen Zusammenhang, in dem Weiß eine negative Bedeutung hat“ (Eva Heller). Assoziationen zu Licht und Glanz werden in anderen Sprachen deutlicher: Was das italienische ‚bianco‘ und das französische ‚blanc‘ ausdrückt, findet im deutschen ‚blank‘ nur ein fernes (und eher negativ getöntes) Echo. Immerhin scheint im Wort ‚leuchten‘ noch das griechische ‚leukos‘ auf. Nicht zuletzt war und ist weiß auch die Farbe des überirdischen Lichts und der göttlichen Mächte.
Stichwort weiße Kleidung: Auch wenn die ‚Halbgötter in Weiß‘ heute nicht mehr auf ganz so hohen Thronen sitzen – in diesen Zeiten richten sich Hoffnungen, Anerkennung und Dank besonders auf jene Berufe. Sie sorgen weiß gekleidet für Hygiene und Genesung, die Ärztinnen und Sanitäter, Klinikpersonal und Pflegekräfte. Aber auch Geistliche tragen vor allem in gottesdienstlichen Vollzügen weiße Gewänder. An hohen Festtagen tauschen selbst evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer den schwarzen Talar des Gelehrten gegen ein weißes Pendant ein oder streifen sich eine ‚Albe‘ (lat.: ‚albus‘ = weiß) über. Mit gutem Grund. Ist weiß doch seit jeher die liturgische Farbe der zentralen christlichen Feiertage, der Christusfeste wie Weihnachten und Ostern. Auch daran lässt sich in den Ostertagen erinnern.
Natürlich ist auch die Farbe Weiß mit ihrer Symbolik der Reinheit nicht ohne Ambivalenzen. Auch der Ku-Klux-Klan tritt in weißen Kutten auf. Mit den Spielarten des Rassismus teilt leider auch die Religion eine Neigung, durch die Unterscheidung von rein und unrein die Sphären des Lichts und der Finsternis säuberlich zu scheiden und in eins damit Gerechte und Sünder, Heilige und Verdammte zu trennen. Gerade die Zeit der Nazidiktatur zeigt, welche furchtbaren Folgen das haben kann. Aber auch in den Jahren nach 1945 war bekanntlich so manche schnellgebleichte und nun scheinbar ‚weiße Weste‘ bei genauerem Hinsehen nicht ohne dunkle Flecken…
An all dies zu erinnern, ist jetzt Gelegenheit. 1945–2020: Heute stehen wir, Gott sei Dank!, nicht im Krieg. Dennoch, 75 Jahre nach Kriegsende stehen jetzt wieder weiße Fahnen, weiße Zeichen für eine Zukunft, deren Konturen noch weitgehend unabsehbar sind, für eine Kraftanstrengung der ganzen Menschheit. Stehen aber vor allem für Befreiung, Frieden und Hoffnung auf andere, bessere Zeiten. Hissen wir also so oft wie möglich die eine oder andere weiße Fahne – denn Weiß gewinnt!
Zur Aktion von Künstler Klaus Illi:
Jeder, der sich an dieser Aktion beteiligt, ist aufgerufen, davon ein Foto zu machen und es dem Künstler per E-Mail an klaus_illi@t-online.de zu schicken. Ein Beispiel: Das farbige Foto, welches von Klaus Illi selbst aufgenommen wurde und seine Frau und eine Mitbewohnerin zeigt. Die Bilder und auch eventuelle Kommentare dazu werden dann unter https://www.klaus-illi.de eingestellt. Dort finden sich auch nähere Informationen zu dieser und anderen Projekten im Zusammenhang des Kriegsendes sowie allgemein zur Arbeit und Konzeption des Künstlers.
Der Theologe Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring ist Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theologie, Digitalisierung der Kommunikation sowie Kultur. Zudem lehrt er seit 2001 im Bereich Praktische Theologie an der Universität Basel/CH.