Die Menschen haben hierzulande – bis auf wenige Ausnahmen – Ostern im kleinen Kreis gefeiert. Sie haben die Aufforderungen der politisch Verantwortlichen beachtet. Überall wird auf Abstand geachtet. Selbstverständlich und ohne jedes Gemecker. Die Gesellschaft hat sich heruntergefahren, die Wirtschaft auch. Die Schäden werden absehbar beträchtlich sein. Und allen ist klar: Das muss bald ein Ende haben. Die Rufe nach einer baldigen Exit-Strategie werden immer lauter.
Da gibt es natürlich Stimmen, die die ständige Beratung der Politik durch wissenschaftlich argumentierende Virologen als hinderlich empfinden. Sie fühlen sich nämlich darin gebremst, endlich wieder loslegen zu können. Manchmal hört man sogar Töne wie diese: „Wir müssen überlegen, welchen Tod wir sterben wollen.“ Gemeint ist: den Tod von Menschen in den Risikogruppen oder den Tod von unzähligen Unternehmen. Solche Äußerungen sind ganz schön zynisch und natürlich überhaupt nicht hinnehmbar. Denn: Wer das Leben der Wirtschaft mit dem Leben von Menschen auf eine Stufe stellt, kratzt an den Grundlagen unseres menschenwürdigen Zusammenlebens. Um solchen Stimmen zu wehren, kann man auch einfach an ein abgewandeltes Wort Jesu erinnern, nachdem der Mensch nicht für die Arbeit da ist, sondern die Arbeit für den Menschen.
Und doch gleichen viele Diskussionen um eine Exit-Strategie oder um eine Bekämpfung des Corona-Virus dem Muster einer Fahrt zur nächsten Kreuzung mit Stopp-Schild: Bremsen. Anhalten. Sich kurz nach rechts und links umsehen. Weiterfahren. Mit gleicher Richtgeschwindigkeit. Auf zum nächsten Ziel. Als wenn nichts gewesen wäre.
Jedoch wird der Bundespräsident mit seiner Rede am Vorabend des Osterfestes Recht haben: Die Gesellschaft wird nach der Corona-Krise eine andere sein als sie vor der Corona-Krise war. Wir werden nicht nur auf absehbare Zeit mit diesem Virus und vielleicht auch noch mit anderen Viren leben müssen. Wir haben vor allem gesehen und hautnah gespürt, welche Folgen die Globalisierung des Wirtschaftslebens auch haben kann. Die Menschheit ist eng aufeinander gerückt. Alles hängt mit allem zusammen, und wir können nicht mehr so tun, als wenn das mit uns allen nichts machen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die Weltgesellschaft ist gleichsam aus ihrer ersten Naivität aufgewacht und reibt sich erstaunt die Augen.
So tun sehr realistische und abwägende Überlegungen gut, die in die Zukunft blicken und durchaus nicht pessimistisch, aber nachdenklich daherkommen. Dazu gehört auch das Gutachten des Frankfurter Zukunftsinstitutes unter der Leitung von Max Horx. In vier Szenarien werden mögliche Wege in die Zukunft mit dem Virus beschrieben:
In einem pessimistischen Szenario wird der Shutdown zur Normalität erklärt. Der globale Handel gehört danach weitgehend der Vergangenheit an, die Handelsabkommen einzelner Staaten untereinander gewährleisten lediglich eine Grundversorgung und die Reisebeschränkungen verstetigen sich. „Die totale Isolation: Alle gegen alle“ wird dieses Szenario überschrieben. „Willkommen in der Super-Safe-Society! Die Gesellschaft definiert sich wieder ganz klar als Nation. Denn Sicherheit kann nur gewährleistet werden, indem die Grenzen der Sicherheitszone klar abgesteckt werden. Sie steht an erster Stelle. Jeder Mensch ist sich selbst der nächste, und der Staat setzt alle verfügbaren Mittel ein, um die Bürgerinnen und Bürger zu beschützt.“
Dass solch ein Szenario der zukünftigen Entwicklung einigen Zeitgenossen in den Kram passt, liegt auf der Hand. Die „First“-Strategien sind bekannt, so rückwärtsgewandt oder dumm sie auch sein mögen. Denn gewinnen wird in solch einem Szenario letztlich keiner, auch nicht diejenigen, die als erste diesen Weg einschlagen.
Allerdings gibt es nach dem Modell des Zukunftsinstituts auch ein optimistisches Szenario: Die Weltgesellschaft erkennt die Herausforderung als globale an, lernt aus der Krise und entwickelt resiliente, adaptive Systeme. Wir-Kultur, Globalisierung, gesunde Umwelten für alle, ein holistisches Gesundheitsverständnis oder der konstruktive Einsatz der Künstlichen Intelligenz sind einige Stichworte dieses Szenarios. Es trägt den Titel: „Adaption: Die resiliente Gesellschaft“. So ließe sich das solidarische Handeln in der Krise auch in der Zeit danach noch halten. „Die Corona-Krise hat zu konkreten Learnings im supranationalen Umgang mit Big Data, Predective Analytics und Frühwarnsystemen geführt. Künstliche Intelligenz wird nun konstruktiver eingesetzt: nicht nur, um frühzeitig Epidemien einzudämmen, sondern zur Minimierung aller möglichen Risiken, die sich nicht um Landesgrenzen scheren. […] Das kontinuierliche Voneinander-Lernen in einer Vielzahl funktionierender Netzwerke schafft eine globale Resilienz.“ Solche Zukunftsszenarien machen Mut. Sie überhöhen nicht die während der Krise und des Shutdowns erlebte und erlebbare Solidarität. Aber sie gehen davon aus, dass der Mensch lern- und entwicklungsfähig ist und sich daher an andere, neue Kulturstufen anpassen kann. Und wir scheinen von einer solchen kollektiven Lernerfahrung zu stehen: Es geht eben jetzt darum, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Das atemlose Hetzen des Wirtschaftens im Großen wie im Kleinen ist zu überprüfen.
Was ist wirklich nötig? Das globale Wirtschaftssystem mit seinen Lieferketten ist an die neuen Verhältnisse anzupassen, das Gesundheitssystem so aufzustellen, dass die Pflegerinnen und Pfleger nicht nur in der Krisenzeit eine Extrazulage erhalten, sondern dauerhaft bessergestellt werden. Wir spüren in diesen Wochen alle, wie wichtig diese systemrelevanten Berufe sind – auch die Tätigkeit der Verkäuferinnen und Verkäufer. Und schließlich: Wie schnell ging es doch, dass Aber-Milliarden Euros für Hilfspakete zur Abfederung der besonders betroffenen Wirtschaftszweige bereitgestellt worden sind. Ist dies nicht auch zur Rettung des Klimas im Interesse zukünftiger Generationen und ihrer Gesundheit möglich? Gerade jetzt, nach diesem Shutdown, könnten nämlich Umweltschutz und Digitalisierung der neue Kraftstoff sein, der die globale Wirtschaft wieder ans Fahren bringt. Dann haben wir zwar vor der Kreuzung abgebremst, sind aber nicht weiter geradeaus gefahren, sondern umsichtig in die neue Richtung abgebogen. Und es kann sein, dass wir damit sehr viel besser leben können als mit der Weiterfahrt geradeaus.
Als Evangelische Akademie wollen wir uns gerne an solchen zukunftsweisenden und visionären Versuchen beteiligen. Denn das ist unser Credo: Wir glauben als Christinnen und Christen daran, dass jeder Mensch zum Gelingen des guten Lebens auf diesem Planeten etwas beitragen kann und dass er dazu auch die nötigen Veränderungen vornimmt, wenn er die nötigen Anregungen erfährt. Für solche Anregungen wollen wir als Evangelische Akademie gerne sorgen. Und so wird auch uns als Akademie die Corona-Krise verändert zurücklassen.
Seit Juni 2013 ist der Theologe Prof. Dr. Jörg Hübner Geschäftsführender Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll.