Solidarisch ist nur der Einzelne – zunächst ist dieses Zitat aus dem Zusammenhang des Romans von Albert Camus „gerissen“. Aber das Wortspiel prägt sich gut ein, jedenfalls in der Französischen Sprache, durch den Austausch des Buchstabens „t“ mit dem „d“: „Le solitaire est solidaire“.
Im Moment ist das unsere Aufgabe, damit wir die Ansteckungskurve flach halten können:
sich zurückziehen, sich nur mit einer Person außerhalb des eigenen Haushalts treffen und natürlich dabei 1,5 m Abstand halten.
Wie schwierig das werden kann, ahne ich nur in Umrissen. Als ich mich wiederfinde vor der Tür des Pflegeheims und dort die Sachen für meinen Vater nur abgeben darf, ihm durch die verschlossenen Glastüren zuwinken und dann eben per Telefon den Austausch suchen kann.
Ein langjähriger Kooperationspartner, der im Rollstuhl sitzt, beschreibt es mir ganz nüchtern am Telefon: „Für mich hat sich nicht viel geändert. Die Leute haben sowieso schon immer einen Bogen gemacht, wenn sie mich in der Stadt sehen – und schneller als die Fußgänger fahre ich mit meinem Rolli allemal.“
Für die Gesamtheit und die Gesundheit der Bevölkerung aber ist es weiterhin nötig, möglichst einzeln zu bleiben, der Abstand ist die neue Solidarität.
Das ist tatsächlich ein Paradoxon, wenn auch die wörtliche Übersetzung von „social distancing“ nicht wirklich gelungen ist: Die sozialen Beziehungen, an die wir im deutschen Sprachgebrauch denken, sollen zwar in Distanz gelebt werden, aber nicht distanziert.
So habe ich in diesem Jahr zum ersten Mal die Osternachtsfeier am Fernsehen mitgefeiert, und war dadurch erstmals in der Gotthardus Kapelle im Mainzer Dom. Und ja so habe ich mich – ganz dabei an diesem Ort und sogar ohne laut mitzusingen – als Teil des Geschehens gefühlt.
Dass der „solidaire“ aber umgekehrt zum „solitaire“ werden kann, das erfahren bitter die Pflegekräfte, die bei ihrer solidarischen Tätigkeit selbst infiziert worden sind und dann zuhause in Quarantäne bleiben müssen. Manch einer unter ihnen ist dann aber auch ernsthaft erkrankt und sogar schon gestorben. Stellvertretend sei an den chinesischen Arzt erinnert, der das Virus im vergangenen Dezember entdeckt und gemeldet hatte.
Das Buch „Die Pest“ von Albert Camus, ein Roman des Existentialismus über den Kampf gegen das Absurde, wurde in diesen Tagen oftmals wieder gelesen. Im Zusammenhang des Buches ist das Zitat „Le solitaire est solidaire“ natürlich anders zu verstehen: und zwar als Erläuterung für das Handeln des Arztes Dr. Bernard Rieux, der in der algerischen Stadt Oran gegen die grassierende Seuche kämpft.
Bleiben wir also solidarisch, indem wir physisch einsam, aber innerlich einander nahekommen. Die neue Solidarität ist der Abstand.
Seit September 2016 ist Albrecht Knoch Wirtschafts- und Sozialpfarrer beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) in Ulm. Der KDA ist ein Fachdienst der Evangelischen Akademie Bad Boll in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.