Wem gehört unser Leben? – lautet die Frage im Schlussplädoyer des Anwalts von Richard Gärtner in Ferdinand von Schirachs Kammerspiel „Gott“.
Der 78-jährige Richard Gärtner möchte seinem Leben mit Hilfe seiner Hausärztin ein Ende setzen, weil er ohne seine vor drei Jahren jammervoll an einem Gehirntumor verstorbene Frau nicht mehr leben will. Sein Fall wird exemplarisch vor einem Ethikrat diskutiert. Im Anschluss an die dargestellte Debatte um das Für und Wider ärztlich assistierten Suizids dürfen die Zuschauer_innen vor den Fernsehapparaten die Entscheidung treffen. 70,8 % sagen: Ja, Herr Gärtner soll das Medikament erhalten. Ihm allein gehört sein Leben.
In dieser Größenordnung hat mich das Ergebnis überrascht. Denn bei Richard Gärtner war nicht gegeben, wovon die meisten beim Thema Sterbehilfe implizit ausgehen. Nämlich von einer finalen Lebenssituation bzw. von einer unheilbaren Krankheit – so wie es im Anschluss an von Schirachs Kammerspiel in „hart aber fair“ im gezeigten Beispiel der Mutter von Olaf Sander der Fall war.
Die Schalte zum Schweizer Fernsehen in Zürich stellt dann auch klar, dass Richard Gärtners Anliegen bei einer Schweizer Sterbehilfeorganisation abschlägig (negativ) beschieden worden wäre. Organisationen wie Exit und Dignitas begleiten Menschen mit hoffnungslosen Prognosen, unerträglichen Beschwerden oder unzumutbaren Behinderungen. Zu ihren Statuten gehört es, dass nicht nur Urteilsfähigkeit, Autonomie, Konstanz und Wohlerwogenheit geprüft werden, sondern ärztliche Unterlagen die infauste (missliche) Situation belegen müssen.
Diese Bedingung gilt gleichermaßen in allen Ländern der Welt, in denen der ärztlich assistierte Suizid gesetzlich geregelt wurde.
In Deutschland betreten wir gerade einen anderen Weg. Als am 26. Februar 2020 das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom Dezember 2015 gekippt hat, hat es nicht nur klargestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch unter Zuhilfenahme Dritter einschließe. Es hat zugleich die Rechtsauffassung vertreten, dass dieses Recht auf Suizid und Suizidassistenz immer und völlig zu gewähren sei: „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist als Ausdruck personaler Freiheit nicht auf fremddefinierte Situationen beschränkt“. Das Recht auf Sterben ist also nicht allein für Einzelfälle mit unerträglicher Qual am Lebensende zu respektieren, sondern als Grundrecht in jeder Lebensphase. Es gilt auch für eine/n 18-Jährige/n mit Liebeskummer, gemobbt und ohne Lehrstelle, der/die ernsthaft, dauerhaft und wohlüberlegt sagt, dass er/sie nicht mehr leben möchte.
Die Karlsruher Richter_innen des Bundesverfassungsgerichtes erkennen zwar an, dass die Achtung eines solchen umfassend interpretierten Selbstbestimmungsrechts in Kollision zur Pflicht des Staates treten kann, das Leben zu schützen, verwerfen diesen Einwand aber mit dem Hinweis auf die fehlende Verhältnismäßigkeit. Gesichtspunkte des Lebensschutzes dürften nicht die Ausübung einer verfassungsrechtlich garantierten Freiheit beeinträchtigen. Der Verfassungsauftrag zum Lebensschutz könne zwar Autonomie gefährdende Formen der Suizidhilfe unter Strafe stellen, der Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe müsse aber grundsätzlich und real eröffnet bleiben. Reguliert werden könnte allenfalls die Pflicht zur Aufklärung im Beratungsgespräch, die Überprüfung der Ernsthaftigkeit und Festigkeit des Entschlusses oder die Begutachtung einer unbeeinflussten, freien Willensentscheidung.
Regelungen, die Suizidassistenz auf unheilbare Erkrankungen oder aussichtsloses und unerträglich empfundenes Leiden beschränken – wie es die entsprechenden Gesetze in Kanada, Oregon, den Niederlanden oder der Schweiz beinhalten – seien dagegen nicht statthaft.
Ich frage mich, wohin diese absolute Interpretation und Anwendung des Selbstbestimmungsrechts führt? Wie kann es unter dieser Vorgabe zu einer verantwortlichen gesetzlichen Regelung kommen? Reicht es, wenn der Gesetzgeber lediglich dafür Sorge tragen darf, zu prüfen, dass Suizidhilfe von freier Selbstbestimmung, freier Willensentscheidung und Eigenverantwortung getragen ist?
Wie messen wir überhaupt diese entscheidenden Kriterien? Wann ist freie Selbstbestimmung und freie Willensäußerung gegeben? Welchen Einfluss haben soziale und gesellschaftliche Faktoren? Und was ist mit Personen, die dieser Annahme autonomen Handelns nicht entsprechen? Wie können Menschen, deren Selbstbestimmung eingeschränkt ist, ihr Persönlichkeitsrecht samt Recht auf selbstbestimmtes Sterben wahrnehmen? Wie ist mit Patienten umzugehen, die ihren aktuellen Willen nicht mehr selbst äußern können? Welche Relevanz wird in dieser Frage dem mutmaßlichen Willen beigemessen? Wie steht es um die autonome Willensäußerung derer, die nicht in der Lage sind, den assistierten Suizid selbst umzusetzen, also die Tatherrschaft wahrzunehmen, und die eine dritte Hand zur Durchführung des Suizids benötigen würden? Bleibt ihnen aufgrund ihrer Lebensumstände die grundgesetzlich garantierte freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit also verwehrt? Und wie gehen wir mit den 90% Suizidwilligen um, deren Todeswunsch nachweislich auf eine psychische Verstimmung oder psychische Erkrankung zurückzuführen ist?
Offene Fragen, die meines Erachtens nicht durch das abschließende Plädoyer des Anwalts abgedeckt werden, der die Gesichtspunkte und Standpunkte der Debatte in die banale Frage bündeln zu können glaubte: Wem gehört mein Leben? Das Thema assistierter Suizid ist zu vielschichtig, als dass sich alle Aspekte auf eine einzige Frage reduzieren ließen. Und die Antwort, die wir als Gesellschaft und Legislative zu geben haben, ist nicht so einfach, wie es das Abstimmungsergebnis von 70,8% Ja-Stimmen vermuten lässt.
Der Theologe Dr. Dietmar Merz ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medizinethik und Gesundheitspolitik.