Zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember hatten vier kirchliche Organisationen gemeinsam zu einem Onlinegespräch eingeladen: Wie kann die Migrationspolitik, jenseits von platten Parolen, versachlicht werden? Rund 50 Teilnehmende hörten zu und reagierten im lebendigen Chat.
Manche Gesetze zu Kleinigkeiten scheinen ganze Bände zu füllen. Nicht so die grundlegende „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948. „Sie passt auf eine Seite“, sagte Johannes Brandstäter, Referent für migrationspolitische Grundsatzfragen bei der Diakonie Deutschland. Ihren Höhepunkt habe die Menschenrechtsbewegung in den 1990er-Jahren gehabt, mit der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien. Deutschland habe die meisten UN-Menschenrechtsvereinbarungen ratifiziert, sie hätten also als einfache Bundesgesetze Eingang ins deutsche Recht gefunden. Mit den Anschlägen vom September 2001 habe es eine Abschwächung und neue Kriege gegeben. Beim Krieg in der Ukraine sei der UN-Sicherheitsrat weitgehend unsichtbar geblieben. Die Menschenrechte würden zunehmend politisiert: Bei einem Staat würden sie vehement eingefordert, bei einem anderen Staat werde weggesehen, auch von den westlichen Staaten.
Deutschland ist Einwanderungsland
Doch wie sieht bei der Migration die deutsche Praxis aus? „Deutschland ist Einwanderungsland“, sagte Brandstäter, auch wenn viele Politiker dies lange geleugnet hätten. 15,2 Millionen Menschen in Deutschland seien im Ausland geboren, bei weiteren 6,9 Millionen hätten nur die Eltern Migrationserfahrungen. „Die Fluktuation ist groß, entscheidend ist der Saldo.“
Aktuell, so Brandstäter, weckten schnell aufeinander folgende Verschärfungen des Asylrechts hohe Erwartungen, könnten aber die wahrgenommenen Probleme nicht lösen. Parallel gebe es bei Beratung und Integration an die Substanz gehende Kürzungen. Migration sei großenteils ein vorgeschobenes Problem, das andere, tiefere Probleme verdecke. Dazu gehörten unzureichend ausgestattete Schulen und Kitas, die Verarmung großer Teile der Bevölkerung, der Mangel an bezahlbarem Wohnraum sowie Stillstand und Bürokratie in vielen Bereichen des Alltags.
Bei niedriger Geburtenquote und Zuwanderung gehe es Deutschland viel besser als ost- und südosteuropäischen Ländern mit Geburtendefizit und Abwanderung. Damit das Arbeitskräfteangebot bis 2060 nahezu konstant bleibe, brauche es laut Bundesagentur für Arbeit eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Menschen. Allerdings ließen sich angesichts aktueller Zahlen weitere Zuzüge zurzeit nicht mehr mit der Demografie, sondern nur humanitär begründen. Bereits seit 1990 überstiegen die Zuwanderungszahlen, zuletzt besonders bedingt durch den Krieg in der Ukraine, den demografisch bedingten Bedarf. Darüber hinaus gehende Zuzüge müssen vor allem eine humanitäre Aufgabe begründet werden, die Kirche stelle hier eine große Kraft dar.
Erwerbstätigkeit hintenan
Nur acht Prozent der Zuzüge nach Deutschland aus Drittstaaten erfolgten zur Erwerbstätigkeit, sagte Brandstäter, die meisten anderen aus humanitären Gründen und für den Familiennachzug. Wer es sich als Fachkraft aussuchen könne, komme nicht bevorzugt nach Deutschland. Das Land sei im internationalen Wettbewerb nicht sonderlich attraktiv. Brandstäter plädiert dafür, die Einwanderung zu Ausbildungszwecken zu fördern, um reguläre Wege zu fördern, und bevorzugt aus Ländern mit vielen jungen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt ihrer Herkunftsländer keine Chance haben und wo möglichst keine dort nötigen Arbeitskräfte entzogen werden. Die Diakonie Württemberg sei mit ihrem Projekt zur Pflegeausbildung ein hervorragendes Vorbild.
Asylsuchende mit Aufenthaltsperspektive sollten schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden, auch durch Ausbildung und Nachqualifizierung. „Wir sollten uns auf die Ausbildung derer konzentrieren, die schon bei uns sind, statt auf den Zuzug von fertig Ausgebildeten.“
Eine Kindheit im Lager
Sultana Sediqi, Preisträgerin des Menschenrechtspreises 2023 von Pro Asyl, floh als Kind mit ihren Eltern aus Afghanistan und hat vor kurzem in Erfurt ihr Abitur gemacht. „In zwei Jahren in Deutschland im Flüchtlingslager habe ich meine Kindheit verloren“, sagt sie. Anders als es die Politik darstelle, seien Sammelunterkünfte nicht alternativlos. Gerade im Osten stünden Wohnungen leer. In Erfurt lebten Geflüchtete stets in Angst vor rechter Gewalt. Sie beklagte sowohl die „menschenunwürdigen Zustände im Flüchtlingslager Moria“ als auch den „Tod von unschuldigen Menschen in internationalen Gewässern“. Ein gemeinsames europäisches Asylsystem führe zu einer Einigung auf niedrigere Standards. „Am Tag der Menschenrechte sollten wir nicht feiern, sondern trauern.“
Ein „Moria 2.0“?
Beim Sammeln von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen erwartet sie „ein Moria 2.0 an der brandenburgischen Grenze zu Polen“. Abschreckung funktioniere nicht: „Die Menschen werden weiterhin fliehen, auf immer gefährlicheren Routen.“ Es sei falsch, das Versagen der Sozialpolitik über Jahrzehnte, etwa beim Wohnraum, auf dem Rücken der Geflüchteten auszutragen.
In seiner anerkennenden Reaktion auf Sultana Sediqi verwies Brandstäter auf eine deutliche „Hierarchie in der deutschen Einwanderungsgesellschaft“, je nach Herkunftsland. In den Ängsten vor einem allgemeinen Sozialabbau müsse auf die Ängste und Bedürfnisse von allen Menschen, nicht nur der Geflüchteten, eingegangen werden.
Nora Brezger von Pro Asyl problematisierte den Begriff der „irregulären Migration“, da es für Flüchtende gar keinen anderen Weg gebe. „Für einen Asylantrag gibt es kein Visum“. Die große Mehrheit der Geflüchteten habe einen Rechtsanspruch auf Schutz. Viele Probleme der Überlastung von Behörden seien hausgemacht durch Pflichtzuweisungen, kurzfristige Duldungen und Arbeitsbeschränkungen.
Abschiebung aus dem Altenheim?
Im Chat wurde weitere Kritik geäußert: Aktuell drohe einem Gambier die Abschiebung aus Württemberg, obwohl er einen Vollzeitarbeitsvertrag in einem Altenheim besitze und dort dringend gebraucht werde. Die EU-Außenwirtschaftspolitik produziere Fluchtgründe, deutsche Rüstungsexporte befeuerten Kriege in aller Welt – die zu neuer Flucht führten.
Ein Teilnehmer wies darauf hin, dass bemerkenswert viele Kommunen bereit sind, mehr Geflüchtete aufzunehmen.
Zum Onlinegespräch eingeladen hatten die Evangelische Akademie Bad Boll, Pro Ökumene, die Evangelische Mission in Solidarität und der Dienst für Mission, Ökumene und Entwicklung (DiMOE) der Evangelischen Landeskirche in Württemberg.
Von Peter Dietrich, Freier Journalist, Bericht als PDF
Zur Tagung "Jede/r ist jemand" - Wie können wir die Debatte zur Migrationspolitik versachlichen?