In Deutschland löst das Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen Ängste aus, geschürt durch Krisen und Konflikte. Soll das Zusammenleben nicht scheitern, müssen Christen und Muslime sich um besseres Verstehen bemühen. Interreligiöser Dialog ist längst kein Luxus mehr, sondern unverzichtbar für ein friedliches Zusammenleben in ein und derselben Gesellschaft. Es lohnt sich, Dialogfähigkeit als Kompetenz zu erwerben. Die Tagung "Einführung mit dem interreligiösen Dialog" mit Professor Dr. Karl-Josef Kuschel, Tübingen, versteht sich als Einführung in die Grundfragen des Glaubens von Christen und Muslimen auf Grundlage von Bibel und Koran.
Der folgende Text von Professor Dr. Karl-Josef Kuschel stammt aus dema aktuellen SYM-Magazin 3/2016:
Es war kein Geringerer als unser früherer Bundeskanzler Helmut Schmidt, der in zahlreichen Veröffentlichungen immer wieder für einen konstruktiven interreligiösen Dialog geworben hat. Ausgangspunkt war für ihn diese Erfahrung: »Viele Rabbiner, Priester und Pastoren, Mullahs und Ayatollahs und Bischöfe verschweigen ihren Gläubigen die gemeinsame Botschaft. Viele lehren im Gegenteil, über andere Religionen abfällig und ablehnend zu denken. Wer dagegen ernsthaft Frieden zwischen den Religionen will, muss religiöse Toleranz und Respekt predigen. Ob die Zuhörer in einer Synagoge, in einer Kirche oder in einer Moschee versammelt sind: Sie sollten begreifen, dass die Menschen, die einer anderen Religion anhängen, ähnlich gläubig sind wie sie selber; sie sind Gott so nah und so fern wie sie selbst. Auch wenn ihre Gebete, ihre Traditionen, Gebräuche und Sitten sich von den unsrigen noch so stark unterscheiden, haben sie Anspruch auf den gleichen Respekt, den wir für uns selbst wünschen« (Vorwort zu: J. Sadat, Meine Hoffnung auf Frieden, 2009, 13 von Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel).
In der Tat zeigt ein Blick in die Geschichte, dass man die Heiligen Schriften Jahrhunderte lang nicht miteinander, sondern gegeneinander gelesen hat. Mit Selbstprofilierungsinteressen auf Kosten der je Anderen, mit Übertrumpfungsgelüsten- und strategien: Du glaubst an Deine Religion, ich an die wahre. Das darf man weder verharmlosen noch gar ignorieren. Die Dämonen der Vergangenheit leben noch. Immer noch werden die Heiligen Schriften und die normativen Traditionen so ausgelegt, dass man die Welt spaltet in die eine wahre Religion und die vielen irrigen, falschen Religionen. Exklusivitätsanspruch ist eine Konstante auf allen Seiten. Dagegen gilt es ein anderes Narrativ aufzumachen.
Der Prophet Mohammed hat keine geschichtlich einzigartige Offenbarung verkündet, sondern eine, die sich selber einbettet in eine geschichtliche Abfolge von Offenbarungen und Offenbarungsschriften, die Gott bereits Juden und Christen anvertraut hat. Dass dies welt- und religionsgeschichtlich von größter Bedeutung ist, wo Christen national wie global immer mehr Lebensräume mit Muslimen teilen und wirtschaftlich mit vom Islam geprägten Ländern in hohem Grade verflochten sind, haben viele noch nicht genügend begriffen. Helmut Schmidts Erkenntnisse haben Ungezählte auf allen Seiten, einschließlich der religiösen und politischen Eliten, noch vor sich: Die drei Heiligen Schriften, der Tanach, das Neue Testament und der Koran, sind engstens miteinander verflochten. Gerade der Koran als der zeitlich dritten Offenbarungsschrift stößt Überlieferungen von Juden und Christen nicht ab, sondern tritt mit ihnen in einen neuen, kreativen, d.h. von der eigenen Axiomatik gesteuerten Auslegungsprozess. Wer also die drei Heiligen Schriften nebeneinander legt, dem wird bei allen Unterschieden deren innere Verwandtschaft bleibend bewusst. Daraus folgt:
Muslime, Christen und Juden teilen Überlieferungen miteinander, die sie mit Angehörigen anderer Religionen nicht teilen – nicht mit Hindus und Buddhisten, nicht mit Konfuzianern und Taoisten. Das ist keine Wertung, sondern eine Feststellung, aus der folgt: Juden, Christen und Muslime bilden eine besondere Glaubensgemeinschaft von Monotheisten nahöstlichen Ursprungs und prophetischen Charakters. Machen wir uns das an einem kleinen Gedankenexperiment klar: Einem Muslim muss ich als Christ nicht lange erklären, wer Noach, Abraham oder Mose war. Denn der Koran erzählt von Nuh, Ibrahim und Musa genauso in seiner eigenen Deutung selbstverständlich. Einem Muslim muss ich auch nicht erklären, wer Joseph war, denn eine der schönsten Suren des Koran, Sure 12, erzählt seine Geschichte rund um Vater Jakob und seine Brüder: die Geschichte des Yusuf – in koranischer Auslegung natürlich. Einem Muslim muss ich nicht erklären, wer Hiob, David, Salomo und Jonas waren, denn Ayub, Daud, Sulaiman und Yunus kommen im Koran häufig vor – in koranischer Lesart, wie sonst? Buddhisten und Hindus, Konfuzianern und Taoisten müsste ich das alles erklären. Sie teilen mit Juden, Christen und Muslimen diese Überlieferungen nicht. Umso stärker könnten Brücken über die Religionsgrenzen hinweg geschlagen werden!
In der Vergangenheit aber hat das oft genug zu polemischer Abgrenzung und gegenseitiger Rechthaberei geführt. Besserwisserei und Rechthaberei aber ist das Gegenteil von Dialog. Sie ersticken die Kommunikation, bevor sie richtig begonnen hat. Grundvoraussetzung für den Dialog ist deshalb die Respektierung des Selbstverständnisses des jeweiligen Partners sowie die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich durch das andere Glaubenszeugnis in der Gotteserkenntnis bereichern, im Glauben vertiefen oder durch Gegenerkenntnisse in Frage stellen zu lassen. Nur so hört Glauben auf, Besitz zu sein. Nur so bleibt »Glauben« Glauben: ein auf Vertrauen gegründetes »Auf-dem-Weg-Sein« vor Gott, der der Unverfügbare bleibt. Diese Grundhaltung der Demut vor Gott erst schafft das nötige Vertrauen im dialogischen Gegenüber, nicht einer missionierenden Propagandaveranstaltung ausgesetzt und aufgesessen zu sein.
Zu einem gelingenden Dialog gehört somit auch die Dankbarkeit den anderen Glaubensgeschwistern gegenüber. Dankbarkeit von jüdischer Seite, dass die Hebräische Bibel der Mutterboden zweier anderer großer Geschwisterreligionen werden konnte. Dankbarkeit von christlicher Seite Juden gegenüber für die Überlieferungen der Hebräischen Bibel, ohne welche weder die Person Jesu noch die Selbstbehauptung der urchristlichen Gemeinde noch die Verkündigung an die Völkerwelt denkbar gewesen wäre. Dankbar aber auch Muslimen gegenüber, welche die Botschaft vom Gott Abrahams, Moses' und Jesus' an andere Völker weitergegeben und so buchstäblich bis an die Enden der Erde getragen haben. Dankbarkeit schließlich von muslimischer Seite für die Tatsache, dass im Koran an die Schriften angeknüpft wird, die Juden und Christen von Gott zuvor anvertraut worden waren. Haben doch Muslime mit dem Koran ein Buch vor sich, das sie den »Leuten der Schrift« mitverdanken. Aus diesem Geist respektvoller Dankbarkeit kann ein fruchtbarer interreligiöser Austausch über Bibel und Koran entstehen, über ihre Asymmetrien genauso wie über ihre inneren Verbindungen.
Zur Respektierung des Selbstverständnisses des je Anderen gehört auch die Bereitschaft zur Selbstkritik und zum Hören auf die Grundbotschaft des je Anderen. So wie der Koran nicht von der Bibel, so ist auch die Bibel nicht vom Koran her zu bewerten. Jede Heilige Schrift hat den Anspruch, aus sich selbst heraus verstanden zu werden. Die Bibel ist nicht für den Koran, und der Koran ist nicht für die Bibel Maßstab der Auslegung. In letzter Konsequenz aber kann man nicht gleichzeitig an die Botschaft von Bibel oder Koran glauben, dazu hat jede Schrift ihre eigene unverwechselbare Mitte. Sowohl der Tanach wie das Neue Testament und der Koran fordern eine verantwortliche Glaubensentscheidung, sich auf die jeweilige Kern-Botschaft einzulassen.
Wer das alles beachtet, dem/der kann gelingen, in Begegnung und Austausch das zu verwirklichen, was der Koran selber gefordert hat: einen Streit unter Juden, Christen und Muslimen um das Verstehen der Wahrheit Gottes, aber auf die »beste Art«, will sagen: nicht in Überheblichkeit und Rechthaberei, sondern im Wettstreit um das je bessere, tiefere Verständnis der Botschaft des einen Gottes, dem alle drei sich »ergeben«, will sagen: ihr Leben und Sterben anvertraut haben: »Streitet mit dem Volk der Schrift nur auf die beste Art – außer mit denen, die Unrecht tun – und sagt: ›Wir glauben an das, was zu uns und zu euch herabgesandt worden ist. Unser Gott und euer ist einer.‹ Wir sind ihm ergeben«, heißt es im Koran (Sure 29, 46). Dabei sind bei Studium und Auslegung von Bibel und Koran Juden, Christen und Muslime auf wechselseitige Verstehenshilfe angewiesen. Ohne Bibelkenntnisse kein Koranverständnis und kein Koranverständnis ohne die relecture, die der Koran von biblischen und außerbiblischen Überlieferungen vornimmt. In der Tat: Schon der Prophet selber hatte sich sagen lassen müssen: »Wenn du über das, was wir zu dir hinabgesandt haben, in Zweifel bist, dann frage die, die schon vor dir die Schrift vorgetragen haben!« (Sure 10, 94). Und an anderer Stelle ähnlich: »Wir sandten schon vor dir nur Männer, denen wir offenbarten - / So fragt die Leute der erinnernden Mahnung, wenn ihr es nicht wisst« (Sure 16, 43). Was wir folglich künftig brauchen ist eine Bibelwissenschaft, die im Koran eine relecture der Bibel erkennt und ihn entsprechend in ihre Auslegungsgeschichte einbezieht, aber wir brauchen auch eine Koranwissenschaft, welche die Bibel und ihre Auslegungsgeschichte als integralen Bestandteil der koranischen Überlieferungsgeschichte begreift und so gerade auch für den dialogischen Austausch fruchtbar macht.