Sollte man sich gegen COVID-19 impfen lassen? Ja oder nein? Viele Menschen haben sich bereits impfen lassen, einige hatten sogar bereits ihre Booster-Impfung. Andere überlegen immer noch, ob sie sich impfen lassen sollen. Und wieder andere lehnen eine Impfung kategorisch ab.
Lange oblag jeder und jedem einzelnen die Entscheidung, sich impfen zu lassen. Auch die Politik hatte eine allgemeine Impf-Pflicht lange ausgeschlossen. Doch angesichts der dramatischen Corona-Lage in Deutschland ist die Debatte um eine COVID-19-Impf-Pflicht voll entbrannt.
Was spricht für die Impf-Pflicht, was dagegen? Auch in unserer Studienleitendenschaft wird die Frage aktiv diskutiert. Es gibt verschiedene Blickwinkel und nachvollziehbare Argumente, die für oder gegen eine Impf-Pflicht sprechen, aber vor allem geht es um Freiheit für beide „Seiten“.
Ja zur Impf-Pflicht sagt Prof. Dr. Jörg Hübner in seinem Beitrag. Dr. Dietmar Merz wägt hingegen in seinem folgenden Text das Für und Wider ab:
Kaum ein Thema wird in Deutschland momentan intensiver und kontroverser diskutiert wie das einer allgemeinen Pflicht zur Corona-Schutzimpfung. Die Meinungsverschiedenheiten dazu verursachen nicht nur Spannungen in der Gesellschaft, sondern auch in Freundschaften und Familien.
Für die einen ist die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht eine längst überfällige politische Entscheidung, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Für die anderen wäre es ein nicht akzeptabler Eingriff in ein Grundrecht.
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“, heißt es in Artikel 2 unseres Grundgesetzes. Rechtlich wird sich eine Gesetzgebung zur allgemeinen Impflicht an diesen Grundsätzen messen lassen müssen. Denn Eingriffe in personale Grundrechte sind nur dann statthaft, wenn sie wirklich notwendig und in ihrer Verhältnismäßigkeit gut abgewogen sind. Geklärt werden müsste also, ob die Rechte anderer durch das Nicht-Geimpft-Sein als Recht freier Persönlichkeit-Entfaltung verletzt werden. Etwa dadurch, dass dringende und lebenserhaltende Operationen verschoben werden müssen, weil die Intensivbetten zu 70% durch nicht-geimpfte Covid-Patienten belegt sind (Südwest Presse, 29.11.2021). Solche Güterabwägungen sind nicht einfach. Sie brauchen Sorgfalt, Zeit und die Bereitschaft zur differenzierten Auseinandersetzung. Es dürfte in der derzeit drängenden Corona-Lage und in der angespannten Stimmung eher schwierig sein, in solch aufwendiger Weise ein Gesetzgebungsverfahren zur Impfpflicht auf den Weg zu bringen.
So wenig meines Erachtens ein Impfpflichtgesetz eine überstürzte parlamentarische Aktion sein sollte, so wenig dürfen wir uns die Diskussion über deren Einführung ersparen. Denn es ist für eine freie Gesellschaft kennzeichnend, dass sie schwierige Themen nicht tabuisiert, sondern in offener Auseinandersetzung angeht. Ein gesellschaftlicher Diskurs, bei dem das gemeinsame Bemühen und nicht der schnelle Schlagabtausch im Vordergrund steht, kann helfen, verfestigte Positionen aufzuweichen und die eigene Haltung zu überdenken. Wo Menschen sich nicht aus Rechtspflicht, sondern aus ethischer Überzeugung und in moralischer Pflicht dem Mitmenschen und der Allgemeinheit gegenüber impfen lassen, vollzieht sich verantwortliches Handeln, das mehr sieht als den eigenen Horizont. In diesem Sinne ist Winfried Kretschmanns Hauptargument zu verstehen, dass es bei der Diskussion um die Impfpflicht in erster Linie nicht darum geht, Freiheitsrechte einzelner einzuschränken, sondern vielmehr darum zu überlegen, wie wir die Freiheit aller wiedererlangen können. Damit dieses Signal glaubwürdig ankommt und nicht zu weiterem Misstrauen gegenüber Demokratie und Politik führt, sollten Sprache und Argumente alle zu gewinnen suchen: Impf-Gegner sollten dann nicht pauschal zu Sündenböcken der Pandemie gemacht oder einfach mit Corona-Leugnern und radikalen Querdenkern gleichgesetzt werden. So sehr es Schnittflächen zwischen diesen Gruppen gibt, so sehr benötigen wir eine differenzierte Sicht, damit sich nicht dauerhaft eine Kohorte von Bürgerinnen und Bürgern bildet, die sich von Staat und Gesellschaft entfremdet sieht.
Die Beantwortung der Frage, ob wir eine allgemeine Impfpflicht brauchen, hängt nicht zuletzt an der Beantwortung der Frage, welche Rolle und Wirksamkeit der Impfpflicht in der Pandemie-Bekämpfung zukommt. Ist diese das einzig noch zur Verfügung stehende Mittel, um weiteres Sterben und weiteren Schaden abzuwenden, dann muss über alles Für und Wider hinweg dieser Weg auch eingeschlagen werden.
Ein erster Schritt in diese Richtung wäre für mich die Einführung einer Impfpflicht im Bereich des Gesundheitswesens und der Care-Berufe. Hier überwiegt meines Erachtens der Lebensschutz der anderen eindeutig das Freiheitsrecht des einzelnen. Für die körpernahe Arbeit mit vulnerablen Menschen halte ich es darum für eine Selbstverständlichkeit geimpft zu sein. Alles andere wäre ein unverantwortlicher Bruch mit der Fürsorgepflicht gegenüber Patienten_innen und Klienten_innen. Es war immer schon Teil des Berufsethos und der Garantenpflicht von Mitarbeitenden in Gesundheitsberufen, zuerst das Patientenwohl zu sehen und zu achten.
Ob aus einer Impfpflicht aufgrund besonderer beruflicher Verantwortung eine allgemeine Impfpflicht abgeleitet werden kann, ist in meinen Augen aber rechtlich und argumentativ weniger eindeutig – so sehr es moralisch analog zu betrachten ist.
Solange eine allgemeine Impfpflicht aussteht und noch mit der gebotenen Sorgfalt diskutiert wird, muss überlegt und umgesetzt werden, wie die damit für die gesamte Gesellschaft beabsichtigte Gefahrenabwehr auf anderen Wegen zu erreichen ist. Temporäre Kontaktbeschränkungen oder die Absage größerer öffentlicher Veranstaltungen sind bestehende Möglichkeiten der Pandemiebekämpfung jenseits einer Impfpflicht. Zu denken wäre auch an eine flächendeckende und konsequente Anwendung der 2G Regel. Sie käme in der Auswirkung einer allgemeinen Impfpflicht am nächsten. Aber mit einer anderen Konnotation: Jeder und jede trägt dann die Konsequenz für die eigene freie Impfentscheidung. Freiheitsbeschränkungen, die sich am Risikopotential bzw. Corona-Status (genesen/ geimpft – nicht-geimpft) der einzelnen Menschen orientieren, erachte ich daher als legitim und halte es wie Heinrich Bedford-Strohm: „Denn wenn Ungeimpfte durch ihre Entscheidung ein vielfach größeres Risiko für andere bedeuten, müssen sie auch die dadurch notwendigen Freiheitbeschränkungen akzeptieren“ (Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und ehem. Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland; https://w.epd.de/digital/wos/2021/11/29/179442.htm#).
Der Theologe Dr. Dietmar Merz ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medizinethik und Gesundheitspolitik.