An der Evangelischen Akademie Bad Boll finden seit den 1990er Jahren Tagungen zum Thema Kurdistan statt. Kurd*innen sprechen hier in einem geschützten Rahmen über die Lage in den kurdischen Gebieten, die kurdische Identität und die Einflussmöglichkeiten der Diaspora. Die Aufnahme von Jesid*innen im Rahmen eines Schutzkontingents im Jahr 2015 in Baden-Württemberg wurde von vielen Teilnehmenden der Tagungen intensiv mitbegleitet.
Seit 2023 werden Menschen wieder in den Irak abgeschoben. Dies stößt auf großes Unverständnis und deshalb wurde im Rahmen der Tagung „Die kurdische Perspektive aus Europa“ vom 08. – 10. März 2024 die Bad Boller Erklärung „Abschiebestopp für Jesid*innen jetzt!“ verabschiedet:
Am 19. Januar 2023 hat der Bundestag die Verbrechen der Terrororganisation "Islamischer Staat" an den Jesid*innen als Völkermord mit den Stimmen aller Fraktionen anerkannt. Im Jahr 2014 wurden tausende von Jesid*innen im Nordirak Opfer eines Genozids durch den IS, bei dem sie ermordet, verschleppt, in Geiselhaft genommen und vergewaltigt wurden. Als Folge des bis heute andauernden Konflikts flohen ca. 150 000 Jesid*innen ins Ausland u.a. nach Deutschland, wo sich heute die größte jesidische Diaspora weltweit befindet.
Die Lage der Jesid*innen im Irak hat sich seit Beginn des Völkermords 2014 nicht verbessert. In der Region Kurdistan leben 300 000 Jesid*innen in Lagern unter massiven Einschränkungen, ohne ausreichende Versorgung oder eine Option auf Rückkehr in ihre Siedlungsgebiete. Ihre physische und psychische Gesundheit verschlechtert sich zunehmend. Die Zahl der Suizide nimmt stetig zu. Gleichzeitig steigen Diskriminierung und Ausgrenzung durch radikale Islamisten. Im Schatten des Gaza-Kriegs häufen sich die Aufrufe religiöser Führer, gegen die Jesid*innen vorzugehen. Die wiederholten Bombardements des Sinjar durch die Türkei und die dort operierenden teherantreuen Schiitenmilizen unterstreichen unmissverständlich das Anliegen der beiden Regionalmächte, eine geostrategische Neuordnung der Region durchsetzen zu wollen.
In Kenntnis dieser Bedrohungslage entbehrt das Vorhaben, Jesid*innen in den Irak abzuschieben, jeder verantwortbaren Grundlage. Die aktuelle Situation hat die gesamte jesidische Diasporagemeinde zutiefst verunsichert. Die Auswirkungen dieser Politik zerstören eine wiedergefundene Lebenssicherheit und stimulieren erneut überwundene Traumata.
Wir appellieren an die Bundesregierung und Landesregierungen, sofort Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz und die Sicherheit der Jesid*innen zu gewährleisten und ihnen eine sichere Zukunft in Deutschland zu ermöglichen. Es ist unerlässlich, die Stimmen der Jesid*innen zu hören und ihre Rechte zu achten. Eine Abschiebung in ein genozidales Umfeld muss unverzüglich gestoppt und den Jesid*innen ein sicherer Aufenthaltsstatus in Deutschland erteilt werden.
Bad Boll, 26. März 2024
Unterzeichner*innen der Erklärung:
Teilnehmerkreis der Tagung „Die kurdische Perspektive aus Europa“, 08. – 10. März 2024, Dr. Carola Hausotter, Studienleiterin für Friedensethik und Transkulturalität an der Evangelischen Akademie Bad Boll