Von der Würde der Geschöpflichkeit

Impuls zu Absolutheitsansprüchen in KI-Zeiten

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“. (Immanuel Kant, Berlinische Monatszeitschrift 1784)

Ganz im Sinne dieser berühmten Sätze Immanuel Kants zur Aufklärung betrachtet der Neurowissenschaftler, Mediziner, Psychotherapeut und Bestsellerautor Joachim Bauer als voraufklärerisch, was derzeit im Zuge der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) passiert.

Sehenden Auges und ohne den eigenen Verstand zu bedienen, begäben wir uns in die digitale Unmündigkeit, lassen uns bannen von den Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz. Die Menschheit habe mehr Vertrauen in virtuelle Welten als ins reelle Leben und ins eigene Denken und Können.

Die digitalen Mythen unserer Zeit vergleicht Bauer mit den kirchlichen Jenseitsmythen des Mittelalters. Damals wie heute wurden und werden virtuelle Alternativen zu einer zunehmend unerträglich erscheinenden Realität verkauft. Mit KI verbindet sich der Wunsch eines Epochensprungs hin zu einer posthumanen Lebensweise. KI als Heilsbringer wird schon jetzt der Status einer nicht hinterfragbaren, dem menschlichen Geist überlegenen Macht zuteil. Viele lassen sich unkritisch bannen von dieser Vision und entfliehen damit den Gegenwartsproblemen, entfliehen eigener Ohnmachtsgefühle angesichts dramatischer Veränderungen und Gefährdungen und vertrauen blind den virtuellen Verheißungen.

Den philosophischen Überbau der beschriebenen Phänomene, so Bauer, bilde der sogenannte Transhumanismus:

Viele Teilgebiete der Forschung an „Künstlicher Intelligenz, Nanotechnik, Genetik, Informationstechnologie und Robotik können mit Ihrer Intention, ein neues - anderes! – Leben schaffen zu wollen, in Beziehung zum Transhumanismus gesetzt werden“ (Watson 2014, 126).

Insbesondere im Zentrum der KI-Forschung Amerikas bekennen sich einige Ikonen des Silicon-Valley mehr oder weniger offen zur transhumanistischen Idee. Obwohl es keine einheitliche Lehre des Transhumanismus gibt (der Begriff wurde 1957 erstmals in Julian Huxleys Buch „New Bottles for New Wine” erwähnt), beschreibt der Transhumanismus „einen Übergang von der präsenten humanen Lebensart zur posthumanen Lebensweise, wo endgültig ein Leben ohne Leid, Entbehrung und Konflikte erwartet wird” (Oberneder 2019, 4).  “Smart Cities brauchen geupgradete Menschen!” fasst Stefan Lorenz Sorgner seine Vorstellung einer transhumanistischen Vision vom neuen Menschen zusammen (Forum-Grenzfragen 2019).

Transhumanisten wollen mit den Möglichkeiten der neuen KI-Methoden innerhalb der kommenden Jahrzehnte einen neuen Menschen schaffen, der über einen leistungsfähigeren, weniger krankheitsanfälligen Körper verfügt. Implantierte Computerchips und Sensoren überwachen vorausschauend alterungsbedingte Fehlentwicklungen, greifen rechtzeitig korrigierend ein und optimieren menschliche Möglichkeiten. In dieser Weltsicht werden Krankheiten und äußere Bedingungen des Lebens nicht einfach als Begebenheit menschlicher Existenz betrachtet. Vielmehr gilt, dass nichts hingenommen werden müsse, wie es ist, sondern alles auf der Grundlage neuer KI-Technologie veränderbar und machbar sei. Digitale Simulationen unserer Umwelt werden der realen Wirklichkeit gleichgesetzt, ja schaffen mithin eine eigene neue Wirklichkeit. Bis hin zur Möglichkeit des Menschen, seinen Geist auf einen Computer „uploaden“ zu lassen und so endlich Unsterblichkeit zu erlangen.

Geradezu irrwitzig geht das Machbarkeits-Credo über ungelöste Fragen, unlösbare Probleme und Widerfahrnisse hinweg. „Die Technologien werden es schon richten. Wenn die Erde hinüber ist, leben wir in Raumschiffen. Unsere Nahrung drucken wir mit 3-D-Druckern aus. Wir essen Laborfleisch. Eine Kuh wird uns alle ernähren. Wir ordnen Atome neu an, um Wasser und Sauersoff zu erzeugen“ (Elon Musk, zit. nach Wallace-Wells 2019, 205).

Was ist solchen Fantasien der neuen, befreiten Menschheit aus Sicht theologischer Anthropologie entgegenzusetzen?

Die biblische Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes verleiht dem Menschen einen Wert an sich. Es bedarf weder außerordentlicher definitorischer Eigenschaften noch Qualitätsmerkmale, um menschliches Leben zu erfassen. Diesen Wert an sich gilt es auch im digitalen Zeitalter zu schützen. Jede Form von Instrumentalisierung, Reduktion oder Verwertung von Menschen unterläuft die Würde der Geschöpflichkeit.

Grundlegend für die theologische Anthropologie ist die Gleichheit aller Menschen in ihrer Bestimmung als Ebenbilder Gottes. Allen kommt gleiche Achtung und Zuwendung zu. Anthropologie im digitalen Zeitalter wird darauf zu achten haben, dass dieser Gleichheitsgrundsatz gewahrt bleibt und es nicht zu digital begründeten Herrschaftsstrukturen kommt.

Der Mensch ist von Anfang an Beziehungswesen. Er ist auf Sozialität angewiesen und entwickelt seine Persönlichkeit allererst in der Gemeinschaft. Für die digitale Welt heißt das, dass alle Entwicklungen, die Beziehungen hindern, soziale Verarmung oder Vereinsamung verursachen, und dem widersprechen, was mit der Ebenbildlichkeit angelegt ist.

Biblischer Anthropologie nach gibt es den Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren. D.h. Menschen dürfen nur bewerkstelligen und in Gang setzen, was sie im Sinne ihres Stellvertretungs-Auftrags fürs Ganze verantworten können und was sie beherrschen. Daraus ergeben sich klare Kriterien für eine Technikbewertung in der digitalen Welt.

Biblische Anthropologie geht von einem bleibenden Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Bild und Abbild aus. So sehr Gott den Menschen ein Mandat gegeben hat, so wenig ist der Mensch damit Gott.  Diese Unterscheidung könnte auch für die KI-Entwicklung hilfreich sein: Die durch Menschen geschaffenen Systeme bleiben Abbild und agieren in den Grenzen eines übertragenen Mandats.

Zur Wesensbeschreibung des Menschen in der Bibel gehört seine Begrenztheit und Endlichkeit. Seit es Menschheit gibt, gibt es den Anfang und das Ende einzelner Existenz. Das schützt vor Absolutheitsansprüchen und stellt die eigene Geschichte in den Rahmen einer umfassenderen Geschichte. Eine an dieser Anthropologie orientierte Digitalisierung wird allem wehren, was grenzenlos daherkommt. Sie wird offen sein für gute Entwicklungen und Fortschritte, aber sie wird den Ganzheitsidealen und den Versprechen der Absolutheit der eigenen Geschichte keinen Glauben schenken.

 

Im Rahmen unserer Reihe „via medici: Zum Weg und zu Grundfragen der Medizin“ findet am 24.10.2023 im Hospitalhof (Stuttgart) die Veranstaltung „Reale Begegnung und virtuelle Welten. Zur Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehung für die Gesundheit.“ statt. Der Bestsellerautor, Arzt, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut  Prof. Dr. med. Joachim Bauer diskutiert dabei mit den Teilnehmenden über sein neues Buch „Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen - und die Menschlichkeit bedrohen“.

Infos und Anmeldung

© Heyne-Verlag
© Joachim Bauer

Der Theologe Dr. Dietmar Merz ist seit 2014 Studienleiter für den Themenbereich „Kultur, Bildung, Religion“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medizinethik und Gesundheitspolitik.

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