Von der Qualität des Zufalls

Gedanken zur Herausforderung, Erlebnisqualität ins Digitale zu übersetzen

Nun sind wir also wieder zuhause. Der befürchtete Lockdown hat uns nochmal erreicht. Mit allen Ungewissheiten und Risiken. Nun ist auf verschiedenen Ebenen Herbst: Novembertage, prognostizierte Wirtschaftszahlen sowie manch inneres Befinden gehen einher.

Und dazu das Gebot der Nicht-Begegnung. Das wissenschaftlich begründete Drängen auf Abstand – während die Menschen Kontakt suchen und sich die Seelen nach Nähe sehnen.

Verrückte, schwere Zeiten…

Unsere Aufgabe in Bad Boll ist die politische Bildung. Wir wollen Begegnung, Diskurs, Dialoge ermöglichen mit Menschen unterschiedlicher Couleur und Herkunft sowie Expertise und Blickwinkel. Es ist eine wunderbare Aufgabe, die viele Antennen braucht: inhaltliche Recherche, Trendbeobachtung, Spürbarkeit, einladende Worte, passender Zugang zur Zielgruppe, den 7. Sinn im Prozess, das richtige Wort zur passenden Zeit.

Dieses Sich-in-der-Gruppe-Spüren prägt natürlich auch Prozesse Politischer Bildung: wie sich die Menschen in Tagungen bewegen, sich zwischenmenschlich nähern, abwenden oder freudig verhalten, Zustimmung oder Missmut am Thema körpersprachlich intonieren, Pausen verlängert werden oder Stühle zurechtrücken. Das Sein im Raum, die Körperlichkeit sind Faktoren der Kommunikation in Gruppen.

In den Kaffeepausen findet das Wesentliche statt, so das Credo des Harrison Owen, Entwickler des OpenSpaceProzess-Designs. Dieses nutzt das lebendige Lernen der Zwischenzeiten als Grundstruktur in Tagungen. Aus dieser „Qualität des Zufalls“ in den Pausen erwachsen Inspiration, Wissenszuwachs, Austausch und Lernen, Ideenwurf und Projektschmiede.

Psychologie heute 8/2020 untersucht dieses Phänomen: „Zwischenleiblichkeit“ nennt Philosoph Maurice Merleau-Ponty dieses ständige Interagieren unserer Körper, das uns selten bewusst ist. Es ist eine fast unmerkliche Abstimmung der Körper im Raum. Ein nicht kognitiver Dialog zwischen den Menschen und ein Schritt zur Meinungsbildung, zur Abstimmung. Als würden untereinander mittels Blicke und körpersprachlichen Handelns Inhalte gecheckt.

Eine These: Vielleicht ist dieser unmerkliche Dialograum der körper-sensitiven Abstimmung unter den Anwesenden die Geburtsstunde (oder treffender der eigentliche Ort) demokratischer Aushandlung?

Was gilt in dieser Runde? Was will ich beitragen? Wie ist der Tonus, der Tenor der Anwesenden? Mit welcher Wortwahl kann ich gehört und verstanden werden? Wann kann ich mein Argument setzen?

Sie merken: mit Inhalten hat das noch nicht viel zu tun. Doch darin lebt vielschichtiges Interagieren mit allen Sinnen, schieres Zuhören und Austarieren auf allen Ebenen.

Diese körperlichen Zwischen-Räume sind uns derzeit verwehrt. Wir verlagern Interaktions-Prozesse ins Digitale und erleben darin großartige Möglichkeiten. Wir erreichen neue Zielgruppen, andere Altersspektren schalten sich zu und überregionale Resonanz zeigt sich. Brave new world. Genial! Wir übersetzen Tagungen in ZOOM-Konferenzen und konstruieren angenehmes Kaffeepausen-Feeling in BreakoutRooms. Was für eine Errungenschaft!

Doch viele Menschen spüren Erschöpfung nach den Zoom-Meetings: in kurzer Zeit sind Augen vom Streifen über die Kacheln müde, der Nacken verspannt, die permanente zielgerichtete Konzentration (sich selbst vor laufender Kamera wissend) verlangt Kraft. Von manchen sehen wir nur kleine Gesichter vor realen oder gefakten Hintergründen.

Wir können uns in überschaubaren Kleingruppen kurz austauschen, aber nur wenn wir technisch eingefädelt werden. Wir sind der Macht des Hosts ausgeliefert, was die Gesprächspartner und die Dauer unseres Dialogs betreffen.

Nach den Programmphasen bleibt der Teilnehmende mit sich allein im eigenen Raum. Das zufällig Zwischenmenschliche, das sich jetzt innerhalb einer Tagung anschließen würde, ist nicht möglich. Es fehlt das inhaltliche Nachsinnen, das Formulieren persönlicher Stellungnahmen, die eigene Meinungsbildung im Dialogischen.

Die „Neue Normalität“ sucht also heuer umso mehr nach Angeboten des Erlebens von Zwischen- und Mitmenschlichkeit, Selbstbestimmung im Dialogischen. Ein kollegiales miteinander Lernen und Entwickeln auf Augenhöhe, weil längst jede Position und jeder Blickwinkel zur Lösung unserer gesellschaftspolitischen Probleme zählt:

„Was ist jetzt das eigentlich Wesentliche?“

Das „Art of Hosting-Training“ (AoH) sollte vom 24. bis 26. November 2020 live als ein analoger Lernprozess in Bad Boll stattfinden. Dieses sozial-politische Experiment eines dreitägigen Lernprozesses über Hierarchie, Alter und Auftrag hinweg ist seit fünf Jahren bei uns im Süden zuhause. Es spricht von der „Kunst, gelingende Dialoge in Gruppen zu ermöglichen, in denen Wesentliches für den Einzelnen und im Politischen Raum passiert“.

Wir haben die digitale Version des geplanten AoH-Trainings abgesagt, weil wir in der Kürze der Zeit noch keine Entsprechung auf Ebene der beschriebenen Erlebnisqualität er-finden konnten. Wir könnten schulen, aber die bedeutsamen „Zufälle“ (noch) nicht herstellen.

Doch wir forschen – gerne mit Ihnen! Wir haben einen AoH-Impuls-Workshop entwickelt und laden Sie ein, am 25. November, von 15 bis 18 Uhr am Zoom-Meeting teilzunehmen:  Die Leitfrage: „Wie gelingt das Brückenbauen in einer sich zunehmend spaltenden Welt?“

Regt Sie das Thema an? Wollen Sie die Gastlichkeit im Dialogischen eines Art of Hosting mal kennenlernen? Seien Sie dabei, spüren Sie doch mal rein!

Das Meeting ist kostenlos. Herzlich willkommen!

Bitte melden Sie sich online an, damit wir Ihnen den Zugangs-Link zusenden können.

Sigrid Schöttle ist seit 1993 Studienleiterin im Fachdienst „Jugend ∙ Bildung ∙ Politik“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugend- und Bürgerbeteiligung.

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Alexander Bergholz

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Johanna Haas

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