Kirche und Quartier – zusammen gedacht, gemeinsam gemacht
Wie gelingt gute und integrative Nachbarschaft von Kirche, sozialen Trägern und Kommune? Wie gelingt ein soziales und inklusives Miteinander im Quartier und wo liegen die Herausforderungen? Wie können Kirchengemeinden mit ihren Ressourcen bestmöglich ins Quartier wirken?
Die Veranstalter Dialogforum der Kirchen in der Region Stuttgart, Evangelische Akademie Bad Boll und Aufbruch Quartier/Diakonisches Werk Württemberg haben einen Tag lang die Region Stuttgart bereist, um Antworten zu finden und Ideen zu sammeln. Bei dieser ökumenischen Quartiers-Exkursion mit Multiplikator*innen und Interessierten wurden ganz unterschiedliche kirchliche und zivilgesellschaftliche Quartiersaktivitäten in der Region Stuttgart aufgesucht. Ziel der „Safari“ war, Quartiersarbeit im persönlichen Gespräch mit den Ermöglichern und Engagierten erlebbar zu machen.
Erste Station war die Evangelische Lukasgemeinde Esslingen-Weil. Sie ist zugleich Kirche des Stadtteils und Quartierszentrum. Aus den schwierigen städtebaulichen Gegebenheiten eines bestehenden Kirch- und Gemeindehaus-Ensembles holt man hier unterstützt von Stadt, Diakonie und Stiftungsgeldern, das Beste heraus. Weitgehend ohne bauliche Veränderungen werden von Kirchengemeinde, Kommune und Kreisdiakonie Angebote gemacht, die im Quartier nachgefragt sind: Da wird dann auch mal Fußball im Kirchraum geschaut – und der Altarraum dafür kurzfristig abgetrennt. Nachbarschaftliche und konfessionsunabhängige Angebote für Senior*innen, für Kinder und Jugendliche, für junge Familien beziehen den Kirchraum ganz selbstverständlich mit ein. Die Nutzung als Raum für Gottesdienste leidet darunter keineswegs, vielmehr kann „Kirche bei Gelegenheit“ hier lebendig werden. Quartiersmanager und Diakon Kurt Hilsenbeck wünscht sich nur noch zusätzliche Räumlichkeiten für die zahlreichen Materialien, die er für seine Outdoor-Aktivitäten braucht.
Ganz anders stellte sich die Situation im evangelischen Johannesforum in Wendlingen am Neckar dar. 2021 wurde die erst in den 1960er Jahren erbaute Johanneskirche abgerissen, nicht wenige Wendlinger*innen hatten dies als fatales Zeichen und Verlust kirchengemeindlicher Identität empfunden. Schließlich gab es noch zahlreiche Gemeindemitglieder, die den Kirchenbau mitaufgebaut und sogar mitfinanziert hatten. Nach einem Architekturwettbewerb steht heute im Wendlinger Zentrum das neue Johannesforum. Im Gegensatz zur alten Johanneskirche öffnet es sich einladend zu allen Seiten in den Stadtraum. Gemeindediakonin Bärbel Unrath öffnete in Wendlingen die Türen, erlebt werden konnte ein Gemeindezentrum mit angeschlossenen Wohngruppen der Bruderhausdiakonie. Die meisten Kirchengemeindemitglieder sind heute mit dem Prozess versöhnt, denn die Freude über einen neuen „Dritten Ort“ in Wendlingens Mitte überwiegt: Im Johannesforum gibt es heute neben den klassischen kirchengemeindlichen Aktivitäten zahlreiche Angebote, von denen alle Wendlinger*innen profitieren können. Fazit: Abbruch ist schwierig, aber ein radikaler Neuanfang ist möglich und nutzt nicht nur den kirchlich Aktiven, sondern wirkt in die gesamte Stadtgesellschaft.
Ob alte oder ganz neue Räumlichkeiten – in Neuhausen auf den Fildern zeigte sich, dass es auch ganz ohne Dach über dem Kopf geht. Ingrid Bondorf, Quartiersmanagerin der katholischen Kirchengemeinde St. Petrus und Paulus ist jeden Mittwochnachmittag auf einer Grünfläche am Siedlungsrand mit ihrem grünen Quartiers-Fahrrad präsent. Im vornehmlich von jungen Familien bewohnten Neubaugebiet Akademiegärten gibt es keinen öffentlichen Treffpunkt und auch keinen Quartiersraum. Ingrid Bondorf bietet dort wöchentlich Spiel- und Gesprächsmöglichkeiten, sowie jahreszeitlich und durchs Kirchenjahr geprägte Aktivitäten an: Äpfel zu Erntedank, Laternenumzug zu St. Martin, gemeinsame Adventskranzgestaltung im Dezember. Ihr Ansatz: Präsent sein, ansprechbar sein, Verlässlichkeit bieten.
Auch auf dem Stuttgarter Pragfriedhof im von Bürgerstiftung und katholischer und evangelischer Kirche getragenen „Café Kränzle“ erfuhr die Gruppe, dass es nicht viel braucht, um Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen – hier vor allem für ältere Menschen aus den umliegenden Stadtvierteln. Sie suchen den Friedhof als Besinnungs- und Erholungsort auf. Bisher stellt ein Kreis von Ehrenamtlichen Tische, Stühle, Geschirr und Kuchenspenden – daraus entsteht jeden Donnerstag eine Begegnungsmöglichkeit bei Kaffee und Kuchen. Dass sich dabei schon die eine oder andere neue Partnerschaft ergeben hat, wussten die Veranstalterinnen auch zu berichten.
Die Quartiers-Safari schloss mit der Evangelischen Martinskirche in Stuttgart-Nord, einem Leuchtturm-Projekt der Landeskirche. Gemeindediakon Martin Pomplun berichtete anschaulich zum Entstehungsprozess und zu einem Betreiberkonzept, das Schule machen könnte: Die Martinskirche wurde in den letzten Jahren denkmalgerecht saniert und mit klugen baulichen Maßnahmen für eine erweiterte multiple Nutzung fit gemacht. Sie ist weiterhin Gemeindekirche, aber auch Jugendkirche und Heimat der „Kesselkirche“. Außerdem erfüllt sie mit einem kleinen Mittagstisch, einer Kleiderkammer und Frühstücksangeboten verschiedene soziale Funktionen für das Quartier. Als neue Mitte im Quartier verschränkt sich die Kirche nicht nur konzeptuell, sondern nun auch räumlich mit der Nachbarschaft.
Die Diözese Rottenburg-Stuttgart als auch die Württembergische Landeskirche verfügen in jeder Kommune, in jedem Stadt- und Ortsteil über Kirchbau- und Gemeinderäumlichkeiten, die mal mit mehr, mal mit weniger Zutun der Kommunen und der sozialen Träger entwickelt und betrieben werden können. Dass diese Kooperationen Not tuen, ist evident: Viele Räumlichkeiten werden zukünftig für die klassischen Aktivitäten einer Kirchengemeinde nicht mehr gebraucht. Beide Kirchen gehen die dringend notwendigen Veränderungsprozesse an, und können dabei viel miteinander und voneinander lernen.
Die ökumenische Quartiers-Safari konnte im Dschungel der anstehenden Aufgaben mutmachende Möglichkeiten einer nachhaltig gemeinwohlorientierten Nutzung kirchlicher Gebäude aufzeigen. Sie führte eindrucksvoll vor, dass eine Öffnung und Orientierung von Kirche ins Quartier neue Chancen birgt. Dabei wurde schnell klar: Das eine gemeinsame Rezept für gelingende Quartiersarbeit und nachbarschaftliche Win-win-Situationen zwischen Kirche und Kommune gibt es nicht. Vieles hängt von den Menschen, vieles von den räumlichen Situationen und noch mehr von der Sozialstruktur vor Ort ab.
Deutlich wurde aber auch: Kirche und soziale Träger können nur im Verbund mit einer klugen und abgestimmten Stadtentwicklungs- und Förderpolitik eine bedarfsgerechte Quartiersarbeit machen. Kirche und Kommunen sind schon längst aufeinander angewiesen: Finanziell, personell und konzeptuell. Dass es diese Kooperation mehr denn je braucht, ist angesichts einer zunehmend auseinanderdriftenden Gesellschaft heute keine Frage mehr.
Das Fazit der Exkursion: gemeinsam nach vorne blicken, gute Ansätze stärken und starke Partner suchen hilft. Oder wie Diakon Kurt Hilsenbeck es ausdrückte: MBW – Miteinander bewirkt Wunder!
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