Zusammen mit dem Verkehrsministerium moderierte die Evangelische Akademie Bad Boll zwei intensive Tage lang eine Veranstaltung zum Thema Mobilitätswende und gerechte Mobilitätsgestaltung.
„Nur eine sozial gerechte Mobilität ist nachhaltige Mobilität“, betonte Staatssekretärin Elke Zimmer in ihrer Eröffnungsrede und veranschaulichte, wie im Zuge der Verkehrswende Mobilität nicht nur für benachteiligte Gruppen, sondern für alle Menschen fair gestaltet wird.
Während der Tagung wurde diskutiert, wie konkrete Maßnahmen für bessere Zugänglichkeit in der Breite in Baden-Württemberg umgesetzt werden können. Daran beteiligten sich Vertreterinnen und Vertreter von Betroffenenverbänden aus der Landesverwaltung sowie aus Kommunen, Wissenschaft und Forschung sowie Politik.
Bei einer Podiumsdiskussion zum Auftakt sensibilisierte Simone Fischer, Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, für die Vielfalt an Herausforderungen. Wichtig seien daher eine breite Beteiligung sowie Kontrollmechanismen. Außerdem müsse auch der barrierefreie Individualverkehr im Blick behalten werden (z.B. bei Ladesäulen für E-Autos). Bernd Ebert, Vorstand im Landesseniorenrat, stellte die Kernaussagen der AG Mobilität des Landesseniorenrats vor, an deren erster Stelle barrierefreie Mobilität für alle steht. Dies beziehe sich auch auf Chancengleichheit hinsichtlich der Mobilität auf dem Land sowie die Zugänglichkeit zu digitalen Informationssystemen, die für ältere Menschen oft eine besondere Hürde darstellten. Laut Dr. Marco Lang, Vorstand der Liga der freien Wohlfahrtspflege, müsse Mobilität grundlegend aus Nutzer*innen-Perspektive geplant werden (costumer journey). Er betrachte Barrierefreiheit zudem als Querschnittsthema, wozu ressortübergreifend Lösungen diskutiert werden müssen. Martin Stölzle, Bürgermeister der Stadt Donzdorf, stellte das öffentliche Verkehrssystem seiner Kommune, aus Bürger*innen-Bussen und On-Demand-Verkehr vor. Es müsse jedoch bereits bei der Bauleitplanung eine bessere Versorgung mit kürzeren Wegen beachtet werden. Für Staatssekretärin Elke Zimmer gehe es um die Frage, wie barrierefreie Mobilität in Baden-Württemberg in der Breite umgesetzt werden kann. Sie lud die Interessenverbände dazu ein, Maßnahmen kritisch zu begleiten.
Dazu gab es in den anschließenden Diskussionsrunden erste Gelegenheit. In Workshops mit Menschen mit Behinderung sowie Seniorinnen und Senioren, die durch das derzeitige Verkehrssystem benachteiligt werden, wurde intensiv diskutiert, wie die Mobilität im Kontext der Mobilitätswende für diese Zielgruppe gerechter gestaltet und verbessert werden kann. Der Fokus lag dabei auf den folgenden Themenschwerpunkten:
- Barrieren und Hindernisse im öffentlichen Raum beseitigen
- Informationen im öffentlichen Raum zugänglicher gestalten
- Digitalisierung als Schlüssel für Mobilitätsmöglichkeiten nutzen
- Neue Mobilitätsangebote barrierefrei entwickeln
Aus den Diskussionen wurden vier Handlungsperspektiven für Baden-Württemberg abgeleitet:
1. Vernetzung und Dialog intensivieren
Über alle Themenschwerpunkte hinweg zeigte sich die Notwendigkeit und Bedeutung, den Aus-tausch zwischen den Akteuren zu intensivieren. Insbesondere bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen der Mobilität, beispielsweise bei gesetzlichen Regelungen, bei der Entwicklung neuer Angebote wie Ladesäulen und Anforderungen an Infrastruktur und Fahrzeuge.
Die Tagung war dafür ein guter Auftakt. Jetzt muss der Austausch an verschiedenen Stellen fortgeführt werden: auf konkreter Praxisebene, aber beispielsweise auch für gemeinsame Statements zu Bundesgesetzen. Die kommunale Ebene (Verantwortliche, aber auch Umsetzerinnen und Umsetzer, Planerinnen und Planer, Behindertenbeauftragte) müsse zur Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention auf kommunaler Ebene aktiviert und eingebunden werden.
2. Partizipation von Verbänden an entscheidenden Planungsschritten
Um Einfluss auf die konkrete Gestaltung der Mobilität nehmen zu können muss eine Beteiligung von Verbänden an Planungsprozessen von Anfang an erfolgen (zum Beispiel bei der Entwicklung von technischen Lösungen oder Bestellungen bereits bei Erstellung des Lastenhefts). Die vielfältigen und unterschiedlichen Anforderungen behinderter Menschen sowie von Seniorinnen und Senioren müssen frühzeitig in Gestaltungsprozesse einfließen, um auch etwaige Interessenkonflikte auflösen zu können.
Verantwortliche in der Kommunalplanung sollten hinsichtlich der Gestaltungsansprüche für Zugänglichkeit sensibilisiert werden, zum Beispiel in Form von Erfahrungsparcours und Schulungen. Zudem sind Meldemöglichkeiten für Barrieren und das Etablieren von Kontrollmechanismen zur Überprüfung von Barrierefreiheit anzustreben.
3. Systemlösungen von Nutzerinnen und Nutzern her entwickeln und designen
Bei der Frage digitaler Lösungen wurden Erwartungen an eine ideale App formuliert, die alle Angebote und Anforderungen vereint. Da die Vielfalt an Interessen und Bedürfnissen so jedoch nicht abbildbar ist, muss es das Ziel sein, Apps über Stadt- und Verbunds-Grenzen hinaus nutzen zu können einen Überblick über spezifische Apps zu erhalten, die es etwa für unterschiedliche Hilfs- und Informationsbedürfnisse gibt.
Die Voraussetzungen für eine flächendeckende Nutzungsmöglichkeit von Informationssystemen sind verfügbare Daten. Austausch, Transfer und Qualität von Daten ist zwischen verschiedenen Bereitstellern zu verbessern. Angebote müssen von Nutzerinnen und Nutzern her methodisch gestaltet werden, und spezifische Anforderungen an die Gestaltung sollen schon bei der Entwicklung mitgedacht werden.
4. Qualitätssicherung von Informationen an Fahrgäste
Insgesamt bedarf es einer zugänglicheren Gestaltung von Informationen über digitale Systeme sowie im öffentlichen Raum. Das Zwei-Sinne-Prinzip ist dabei einzuhalten. Die Bedeutung von Auskünften und Assistenzen durch Menschen vor Ort, insbesondere für ältere Menschen und im ländlichen Raum, wurde betont. Eine Einrichtung zentraler Informationspunkte in jeder Kommune wäre ideal. Angesichts des Fachkräftemangels könnten hierfür auch gezielt Menschen mit Behinderung (und Praxiserfahrung) befähigt und ihnen gleichzeitig ein wertschätzender Arbeitsplatz geschaffen werden.
Insbesondere in Störungsfällen muss der Informationsfluss verbessert werden und ist auf die Zugänglichkeit von Umleitungen zu achten. Auch hier ist es wichtig menschliche Assistenz einzusetzen und zu sensibilisieren.
Die Diskussionsrunden wurden durch zwei Impulse aus EU-Perspektive sowie aus konkreter Projektebne bereichert. Die EU-Abgeordnete Katrin Langensiepen schilderte zunächst aus eigener Erfahrung von Barrieren bei Reisen mit Zug und Bus über Ländergrenzen hinweg. Sie berichtete zudem über den Gesetzentwurf eines EU-weiten Behindertenausweises. Eine Harmonisierung des Behindertenstatus werde dabei jedoch nicht diskutiert.
Julian Bansen vom Projekt MobiQ in Geislingen stellte Möglichkeiten zur Mitgestaltung durch Bürger*innen vor. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Auftaktveranstaltung des neuen Netzwerks „Zusammen für soziale Innovationen der Mobilitätswende“ (ZIMT) am 10.11.2023 in Stuttgart.
Während der Tagung beeindruckten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch ihr vielfältiges Engagement. Es wurde deutlich, welchen Erfahrungsschatz und gute Praxisbeispiele es im Themenfeld gerechte Mobilität für Menschen mit Behinderung sowie Seniorinnen und Senioren bereits gibt. Wichtig ist es die Vernetzung und den Dialog an verschiedenen Stellen nun zu intensivieren, wozu die Tagung Anstoß gegeben hat.
Diese Veranstaltung war Teil einer Tagungsreihe, die 2023 bereits ein Empfehlungspapier für mehr Gerechtigkeit in der Mobilität für Kinder, Jugendliche und Familien hervorgebracht hat. Im kommenden Jahr liegt der Fokus auf Menschen mit Migrationshintergrund. Dazu sind neben Interessen- und Wohlfahrtsverbänden auch wieder Akteure aus der kommunalen Verwaltung, dem Verkehrssektor sowie der Forschung herzlich eingeladen.
Gerne können Sie dazu bereits jetzt Kontakt aufnehmen bei: Studienleiter Jonas Franzen