Zurzeit wird in Deutschland über kaum ein anderes Thema so ausführlich debattiert, wie über das Corona-Virus. Inzwischen verfügen die meisten über vielseitiges Wissen und vielerlei Mythen kursieren im Netz. Wie geht man aber in anderen Regionen mit dem Thema um?
Die Medien versorgen uns seit Wochen allerorts täglich wiederkehrend mit zahlreichen Statistiken. Eine Schlussfolgerung, die man aus den Zahlen ziehen kann, ist der unterschiedliche Verlauf der Krankheit in den verschiedenen Ländern. Das mag einerseits auf einer komplexen Verflechtung von vielerlei Faktoren beruhen. Entscheidend jedoch sind die Unterschiede der gesellschaftlichen Strukturen sowie die politischen Maßnahmen als Reaktion auf die Corona-Krise. Dies lässt sich am Beispiel Südamerikas verdeutlichen.
Die schwierigen materiellen Grundlagen
Das Virus erreichte die Region „relativ“ spät. Erst Ende Februar, mit der Rückkehr der letzten südamerikanischen Tourist_innen aus den Ferien in Europa, wurde die Krankheit importiert. Aus diesem Grund waren zunächst nur die obere Mittelklasse und die reicheren Schichten betroffen, da nur sie sich dieses touristische Ziel überhaupt leisten können.
Auch wenn die gesellschaftlichen Indikatoren der verschiedenen Staaten Südamerikas stark voneinander abweichen, leidet die ganze Region an mehr oder weniger ähnlichen Voraussetzungen: einer starken Polarisierung der Einkommen, verbreiteter Armut und sichtbaren Mängeln in der sanitären Infrastruktur. Seit 2016, mit der erneuten neoliberalen Wende, wurde gerade bei Letzterem stark eingespart und viele Infrastrukturprojekte gestoppt. Sogar Impfprogramme wurden ausgesetzt. Die Grundlagen für die Bekämpfung der Krankheit sind daher sehr prekär und der Prävention kommt große Bedeutung zu.
Missliche Arbeitsverhältnisse in einem breiten Teil der Bevölkerung, ein abgemagerter Sozialstaat sowie eine schleichende Wirtschafts- und Verschuldungskrise bilden eine gesellschaftliche Basis, die nur schwer eine lange Quarantäne ermöglicht. Auch die Unternehmen (die sog. „Wirtschaft“) versuchen sich den Folgen so weit wie möglich zu entziehen und agieren gegen jegliche Eingrenzung des Wirtschaftskreislaufs.
Wie reagiert man auf eine Pandemie? Argentinien und Brasilien im Vergleich
Das beschriebene Bild trifft sowohl auf Argentinien als auch auf Brasilien zu. Beide Länder haben jedoch absolut unterschiedlich reagiert. Die neue Regierung Argentiniens folgte dem Wahlkampfversprechen eines Austritts aus neoliberaler Austeritätspolitik und führte eine harte Quarantäne ein, trotz Widerstands des Wirtschaftssektors. Unter der Bevölkerung fanden die Maßnahmen großen Zuspruch, auch wenn immer wieder Einzelpersonen versuchten, die Quarantäne zu brechen. Begleitend wurde ein Programm zur Fürsorgeunterstützung für Arme, prekär Beschäftigte und Arbeitslose eingeführt – aber auch für kleine Unternehmen und freischaffende Arbeiter. In den ärmsten Vierteln wurde als Variante eine Gemeindequarantäne eingeführt, um Raum für kleine Alltagsarbeiten zu lassen. Dadurch konnten gerade diese Arbeiter_innen weiterhin in Infrastrukturprojekte der Kommunen wie z.B. der Ausweitung der Wasserversorgung eingesetzt werden.
Grund dieser Politik war nicht nur die Kontroverse „Leben oder Wirtschaft“. Es ging auch darum, Zeit zu gewinnen, während man die nötige Infrastruktur aufbaute und die Forschung im Gesundheitsbereich beschleunigte. Die politische Basis dafür wurde geschaffen, indem die Gouverneure aller Provinzen und die wichtigen Oppositionsparteien miteinbezogen wurden.
Die Zahlung der Außenschulden wurden wegen der starken Finanzkrise unterbrochen und die Mittel vorrangig zur Bekämpfung des Virus eingesetzt. Auch durch Geldpolitik werden die neuen Staatsausgaben finanziert. Eine Sondersteuer für Wohlhabende wird gegenwärtig im Parlament (virtuell) diskutiert.
Nach fast zwei Monaten Quarantäne werden langsam und vorsichtig die ersten Beschränkungen aufgehoben und begrenzt dürfen einige Aktivitäten wieder aufgenommen werden. In Regionen ohne Infizierte ist auch eine gewisse Lockerung der absoluten Ausgangssperre auf dem Prüfstand.
Brasilien folgte einem entgegengesetzten Weg. Der rechtspopulistische Präsident Bolsonaro lehnte sich an Trumps Reaktion an mit der Behauptung, es handele sich nur um eine „gripecinha“ (eine kleine Grippe). Seiner Meinung nach ist jeder Schlag gegen die Wirtschaft wesentlich gefährlicher als eine Pandemie. Nur eine kräftige Bevölkerung ist nötig, meint er, um das Virus zu besiegen. So muntert er die Bevölkerung auf, Sport zu treiben, anstatt Vorsichtmaßnahmen zu treffen. Und was Sport nicht schaffe, möge Gott schon richten: die Evangelikalen, denen Bolsonaro angehört, setzen alle Hoffnung auf die Hilfe des Herrn. Sondermaßnahmen im Bereich des Sozialstaats und der Infrastruktur bleiben – wie erwartet – aus.
Natürlich entspricht diese Sicht auf Corona nicht der allgemeinen Meinung – auch nicht in der Politik. So haben einige Gouverneure in ihren Bundesländern Quarantänen eingeführt. Doch Bolsonaro agiert dagegen und ermuntert die Bevölkerung dazu, sie zu brechen. Dadurch entsteht – wie auch in den USA – eine steigende Spannung und Spaltung in der Gesellschaft.
Die Folgen und Erwartungen
Die kurzfristigen Folgen beider Politikrichtungen eignen sich bestens für einen Vergleich. Brasilien diagnostizierte den ersten Corona-Fall am 26. Februar; Argentinien am 3. März. Die Entwicklung in Brasilien lief rasant: Am 28. April konnte man schon 67.446 Infizierte und 4.603 Tote zählen. Stattdessen stiegen die Zahlen in Argentinien auf jeweils 4.003 Infizierte und 197 Tote (Rang 53). Die Bevölkerung Argentiniens entspricht etwa 22% der brasilianischen; der Prozentsatz der Erkrankten Argentiniens liegt aber bei knapp 6%, der der Verstorbenen ist noch geringer, bei 4,2%. Die unterschiedlichen Entwicklungen sind offensichtlich. Zwar musste Argentinien eine tiefere Rezession in Kauf nehmen, aber auch Brasilien konnte ihr nicht entgehen.
Argentinien konnte bisher einen Ausbruch des Corona-Virus in den ärmsten Vierteln, den „Villas“, vermeiden. Die unvorsichtigere Politik Brasiliens schaffte das in den äquivalenten „Favelas“ nicht. Der Mangel an Infrastruktur und die Schwierigkeit, strenge Quarantäne in Gegenden durchzuführen, die unter Hungersnot und Wassermangel leiden, ist eine große Herausforderung. Daher bleibt die Frage offen, wie es in Argentinien weiter gehen kann, wenn auch diese Gruppen betroffen sind (der erste Fall wurde am 22. April bestätigt). Die Antwort hieße: Ausbau der Infrastruktur und Suche nach kreativen Formen der Eingrenzung der sozialen Kontakte.
Auch die tiefe Wirtschaftskrise, die Argentinien seit mehr als einem Jahr erlebt, kann auf Dauer zu einem Kurswechsel in der Gesundheitspolitik führen. Die Außenverschuldung wird zurzeit neu verhandelt. Auch wenn die Gläubiger erkennen, dass eine Weiterzahlung nicht möglich ist, verlangen sie als Gegenleistung zur Umschuldung sämtliche bekannten Sparmaßnahmen bei den sozialen Staatsausgaben, Privatisierungen und tieferen Deregulierungen. Ob in diesem Spannungsfeld die bisherige, erfolgreiche Politik weitergeführt werden kann, bleibt offen. Doch jeder Tag ist ein gewonnener Tag.
Prof. Dr. Andrés Musacchio ist Studienleiter für den Themenbereich „Wirtschaft, Globalisierung, Nachhaltigkeit“. Seine Arbeitsschwerpunkt sind Ökonomie und Sozialpolitik.