„Der alltägliche Antiziganismus schlägt in Gewalt um“, warnte der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, gestern (03.05.2016) in der Evangelischen Akademie Bad Boll: „Wir dürfen die Geschichte nicht vergessen“, Der systematische Völkermord an Sinti und Roma während des Dritten Reiches sei von Politik und Öffentlichkeit lange Zeit verdrängt und zum Teil sogar geleugnet werden. In den Nürnberger Prozessen hätte die Ermordung nur eine untergeordnete Rolle gespielt. „Heute müssen wir den Hasstiraden eine menschliche Vision entgegensetzen“, forderte Rose.
Der Historiker Dr. Ulrich Opfermann gab einen Überblick über die Geschichte des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma. Am Beispiel der Familie Lind aus dem Westerwald machte er deutlich, dass auf der lokalen Ebene „jeder Entscheidungsspielräume hatte“. Der Vater Adam Lind war nach Dachau deportiert worden und dort gestorben. Seine Frau Walburga lebte mit den vier Kindern in dem kleinen Ort Nisterberg. Auf Betreiben des Volksschullehrers seien die Kinder unter einem Vorwand von der Schule verwiesen worden. Dieser Vorgang habe die Kriminalstelle auf den Plan gerufen, die dadurch auf die Familie aufmerksam wurde. In der Folge wurden Walburga Lind und ihre Kinder zwischen 6 und 12 Jahren nach Ausschwitz deportiert. Alle starben in dem Konzentrationslager.
Nur 20 Kilometer entfernt, habe ein Bürgermeister Deportationen verhindert, indem er sich vor die bedrohten Menschen stellte. Die antiziganistische Ausgrenzung sei nicht nur von oben verordnet worden, betonte der Historiker. In der Praxis habe es bis 1936 viele, vor allem auch bürgerliche Handlungsträger gegeben, die die Minderheit der Sinti und Roma aktiv ausgrenzten. Nur wenige hätten den vorhandenen Spielraum genutzt, um sie zu schützen. Ab 1938 sei die rassistische Fundierung des Völkermords von oben erfolgt.
Der Vizepräsident des Bundeskriminalamts, Michael Kretschmer, berichtete über die Aufarbeitung der BKA-Geschichte und einer Kriminalpolitik, die sich zwischen beständigen Konzepten, politischen Reformen und Sprachregelungen bewege. Die „unpolitische Professionalität“, mit der die Mitarbeiter in den 1950er Jahren ihren eigenen Arbeitsstil beschrieben hätten, sei in den 1960er Jahren einer prekären Normalität gewichen. Durch den sich anschließende Ausbau der Behörde habe die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte zunächst an Bedeutung verloren. „Kategorien und Routinen wurden weiter tradiert“, sagte Kretschmer. Die erneute wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit setzte erst später wieder ein. Es habe sich gezeigt, dass Routinen zwar eine systemstabilisierende Funktion haben könnten. Doch die Frage, ab wann ein reflektierender Vollzug, eine verantwortungsbewusste Haltung gegenüber Routinen nötig sei, ist für Kretschmer zentral: „Jede Datenverarbeitung lebt von Kategorien.“ Er berichtete darüber, wie das BKA seine Mitarbeitenden inzwischen durch Vorträge, Schulungen und interkulturelle Trainings für Auslandseinsätze und einen sensiblen Umgang mit Minderheiten vorbereitet.
Der Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Jens Rommel, gab einen Einblick über die historische Entwicklung seiner Einrichtung und deren juristische Rahmenbedingungen. Die Zentrale Stelle sammelt das gesamte erreichbare ermittlungsrelevante Material über nationalsozialistische Verbrechen, sichtet und wertet es aus. Werden noch verfolgbare Beschuldigte festgestellt, leitet die Einrichtung den Vorgang an die zuständige Staatsanwaltschaft weiter. Seit 1960 kann im Wesentlichen nur noch Mord bestraft werden. Der Tatbestand des Völkermords wurde juristisch erst Mitte der 1950er Jahre in Deutschland verankert. In der Zentralen Stelle gibt es 256 Verfahren, deren Opfer Sinti und Roma waren, berichtete Rommel. Darunter seien zwei Sammelverfahren über Exekutionen in Russland sowie 70 eigenständige Vorermittlungen unter anderem über die Beihilfe zum Mord an Zehntausenden in Vernichtungslagern.
Kirchenrat i. R. Martin Pfeiffer berichtete über die gemeinsamen Tagungen, die die Akademie Bad Boll gemeinsam mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in der Vergangenheit bereits organisiert hatte. Er betonte die Wichtigkeit des Themas angesichts aktueller Diskriminierungen gegen Sinti und Roma sowie andere Minderheiten. Er regte an, die Zentrale Stelle in Ludwigsburg in ein Dokumentations-, Forschungs- und Informationszentrum umzuwandeln, wenn dessen juristische Arbeit beendet sei.
In der abschließenden Diskussion unterstrich Romani Rose nochmals, dass die juristische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus keine allein auf die Vergangenheit ausgerichtete, gleichsam akademische Aufgabe sei, sondern vielmehr auf die Gegenwart bezogen sein müsse. Nicht zuletzt das Verfahren gegen den sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)“ habe gezeigt, wie schon in den Ermittlungen der Polizeibehörden Stereotype und Vorurteile dazu geführt haben, dass diese terroristische Organisation über Jahre hinweg in Deutschland ihre Morde verüben konnten.