Von Ruth Seyboldt
Zur Annäherung an die Frage, was Beteiligung ist, erzähle ich zwei Geschichten. Die erste ist die einer Freundin aus dem Careleaver-Netzwerk. Ich nenne sie Sandra. Sie ist 17 und lebt seit vielen Jahren in stationärer Jugendhilfe. Erfolgreich hat sie die mittlere Reife absolviert und träumt davon, das Abitur zu machen und Soziale Arbeit zu studieren. Sandra kümmert sich um einen Platz an einem beruflichen Gymnasium und stürzt sich in die schulischen Aufgaben. Dann wird sie krank und muss für mehrere Monate ins Krankenhaus. Zurück in der Wohngruppe raten ihr die Mitarbeiterin des ASD und auch die Bezugsbetreuerin der Wohngruppe davon ab, das Abitur zu machen. Sandra ist wütend und sieht das nicht ein. Die Fachkräfte setzen sich durch. ... Heute ist Sandra Köchin. Es macht ihr Spaß, aber ihren Traum hat sie immer noch. Die andere Geschichte ist aus meiner Zeit in der Jugendhilfe. Ich war damals 19 und lebte in einer Wohngruppe. Wir Jugendlichen hatten viel Spaß daran, an der Playstation Singstar zu spielen, bis die beiden Mikrofone kaputt gingen. Von den Betreuern bekamen wir kein Geld. Ich wollte das nicht akzeptieren und hatte eine Idee. Als Gruppe haben wir schließlich Kuchen gebacken und auf dem Markt verkauft. Schon eine Woche später hatten wir neue Mikrofone und konnten wieder singen.
Genauer beschreiben lässt sich Beteiligung mit der sogenannten »Leiter der Beteiligung«. Auf den beiden untersten Stufen sind zwei Formen der Nicht-Beteiligung dargestellt – die Instrumentalisierung und die Anweisung. Die Anweisung macht durchaus Sinn – beispielsweise die Bearbeitung von Hausaufgaben. Es folgen dann drei Vorstufen der Beteiligung: Information, Anhörung und Einbeziehung. Häufig werden diese Formen von den Fachkräften schon als Beteiligung verstanden. Auch Hilfeplangespräche – das gesetzlich verankerte Beteiligungsinstrument – schaffen es häufig nicht über Vorstufen der Partizipation hinaus. Sie kennzeichnen sich meist dadurch, dass Kinder und Jugendliche befragt werden. Zum Beispiel: »Wie läuft es denn in der Schule?« Als Jugendliche fand ich diese Fragen immer doof. Mir war klar: Egal, was ich sage – am Ende entscheiden sowieso die Erwachsenen. Die drei folgenden Stufen sind Mitbestimmung, teilweise Entscheidungskompetenz und Entscheidungsmacht. Hier geht es darum, dass die Meinung des jungen Menschen genauso viel zählt wie die der Erwachsenen und, dass es einen ehrlichen Aushandlungsprozess gibt. Auf Augenhöhe. Das klingt schwierig – und ist es auch.
Doch wofür braucht es Beteiligung? Ein Blick in das Kinder- und Jugendhilferecht könnte eine Antwort bringen. Dort ist in § 1 SGB VIII die Rede von einer »eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit«. Das ist das gesetzlich definierte Ziel der Kinder- und Jugendhilfe und hat drei zentrale Aspekte: 1. Eigenverantwortung. Die Heranwachsenden sollen Verantwortung für sich und ihr Tun übernehmen. Sie sollen gut für sich sorgen können. Der zweite Aspekt ist die Gemeinschaftsfähigkeit. Die jungen Menschen sind fähig, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren. Also müssen sie lernen, die Gemeinschaft im Blick zu haben und die eigenen Bedürfnisse auch einmal hinten anzustellen. Die Heranwachsenden sollen die gesellschaftlichen Normen kennen und Regeln akzeptieren. Diesen sollen sie sich zugleich aber auch nicht einfach nur unterordnen. Das betont der dritte Begriff – Persönlichkeit. Die Heranwachsenden können Stellung beziehen und sich wehren. Sie kennen ihre Rechte und treten für diese ein. Sie entwickeln Ideale zur Orientierung – zum Beispiel Gerechtigkeit. Dafür brauchen sie ein Selbstwertgefühl – das ist zentral für sie. Sie müssen wissen, dass sie wertvoll sind – ohne etwas dafür zu tun. Sie sollen Selbstvertrauen erlernen, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und eine Kenntnis der eigenen Stärken. Sie sollen sich als selbstwirksam erleben – dass sie mit ihrem Handeln ihr Leben aktiv beeinflussen und gestalten können und nicht einfach ausgeliefert sind. Damit junge Menschen ihr Leben eigenständig und eigenverantwortlich gestalten können, müssen sie darauf vorbereitet werden, selbst Entscheidungen zu treffen und dafür gerade zu stehen. Und dafür braucht es Beteiligung. Beteiligung ist ein aktives Üben dieser Kompetenzen, die wir fördern wollen. Wenn wir Heranwachsenden die Möglichkeit geben, Entscheidungen zu treffen – also mitzubestimmen, sind sie gezwungen, sich mit den Konsequenzen ihres Tuns und Lassens auseinanderzusetzen. Mit jedem Entscheidungsprozess lernen sie dazu. Und entwickeln genau die Kompetenzen, die sie benötigen.
Was hat das Ganze mit Beschwerde und Ombudschaft zu tun? Beschwerdemöglichkeiten sind ein Ausgleich zu den bereits oben genannten normativen Zielen und Kompetenzen. Wenn man Beteiligung ernst nimmt, passiert es, dass man Meinungsverschiedenheiten mit den jungen Menschen feststellt. Sie verfolgen andere Ziele als man selbst. Sie wollen etwas Anderes lernen. Das ist anstrengend. Aber im Grunde ist es gut. Es entspricht dem Ziel, dass Heranwachsende sich positionieren lernen. Beteiligung und Beschwerde können nicht getrennt voneinander verstanden werden. Denn für Beteiligung braucht es die Möglichkeit, sich zu beschweren und auf die eigenen Bedürfnisse und Rechte hinzuweisen. Es braucht ein funktionierendes Beschwerdesystem. Was ist ein »funktionierendes» Beschwerdesystem? In der Wohngruppe, in der ich als Jugendliche gelebt habe, wurde für Beschwerden ein sog. »Kummerkasten« eingeführt – ein Briefkasten gegenüber des Mitarbeitenden-Büros. Ich wusste bald: Den Kummerkasten würde ich niemals verwenden. Es fehlt an Anonymität und der schnellen Beantwortung. Dies sind jedoch wichtige Faktoren für ein internes Beschwerdesystem. Dieses ist zusätzlich durch ein externes zu ergänzen. Für alles, was sich intern nicht (mehr) klären lässt.
Wie kann Beteiligung gelingen? »Ich will dich vor einer ›falschen‹ Entscheidung bewahren.« Das wollen viele Eltern für ihre Kinder. Und trotzdem müssen sie ertragen, dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und ebendies müssen auch Betreuer_innen. Ähnlich ist der Gedanke »Ich weiß doch, was gut für dich ist«. Ich kann dazu nur sagen: »Nein, das wissen Sie nicht«. Ich bin mit 17 Jahren aus der Wohngruppe ausgezogen, weil ich mich in dem engen Setting nicht mehr wohl gefühlt habe. Alle Fachkräfte waren dagegen. Trotzdem haben sie sich darauf eingelassen. Dieser Lernprozess war gut für mich. Nach vier Monaten habe ich festgestellt, dass ich doch mehr Unterstützung brauchte, als es ambulant möglich war. Und so bin ich wieder in die Wohngruppe eingezogen. Und konnte mich auf die Hilfe einlassen. Der Schritt raus war somit ein zentraler. Es geht darum, sich auf den Weg einzulassen, den junge Menschen gehen wollen.
Als Fazit bleibt festzuhalten: Beteiligung ist eine Haltungsfrage. Die Mitarbeitenden sollten sich über ihre Befürchtungen in Bezug auf Beteiligung bewusst werden und diese reflektieren. Sie sollten sich darüber im Klaren sein, was sie ab und an davon abhält, Kinder und Jugendliche zu beteiligen. Und sie sollten Ideen entwickeln, wie sie den Mut für Beteiligung fassen können. Ebenso ist Beteiligung aber auch eine Aufgabe der Einrichtung als Ganzes. Es geht darum ein Klima zu schaffen, bei dem Beteiligung ganz selbstverständlich dazu gehört – und zwar auf allen Ebenen – angefangen bei den Mitarbeitenden, über die Kinder bis hin zu den Eltern. Beteiligung kann nicht implementiert werden, sie muss gelebt werden. Selbstverständlich sein. Und vielleicht haben wir dann in ein paar Jahren flächendeckend Kinder- und Jugendparlamente, die ernstgenommen werden und mitreden dürfen. Denn können tun sie es!
Ruth Seyboldt
Ich bin Careleaverin. Mit diesem Begriff werden Personen bezeichnet, die in stationärer Jugendhilfe gelebt haben und von dort aus in ein eigenständiges Leben starten. Ich bin 26 Jahre alt und habe mein Bachelor-Studium der Sozialen Arbeit abgeschlossen. Beruflich war ich mehrere Jahre in der stationären Jugendhilfe aktiv und kenne sowohl die Seite der jungen Menschen, als auch die der Mitarbeitenden. Jetzt bin ich in den Freiwilligendiensten tätig und engagiere mich ehrenamtlich beim Careleaver e.V., seit anderthalb Jahren als Vorsitzende. Careleaver e.V. entstand aus einem Forschungsprojekt der Universität Hildesheim. Im Rahmen des Projektes waren Careleaver an zentralen Entscheidungen beteiligt. Schließlich haben sie beschlossen, einen Verein zu gründen – und damit unabhängig von der Universität Hildesheim zu werden. Der Verein ist selbstverwaltet und -organisiert. Er setzt sich für die Verbesserung des Übergangs von der Jugendhilfe in die Selbständigkeit ein und stellt eine Lobby für junge Menschen in stationärer Jugendhilfe dar.
Der Vortrag von Ruth Seyboldt wurde auf der Tagung »Machtausgleich mit allen Mitteln«, 22.-23. Mai 2019 in Bad Boll, verlesen, da sie nicht selbst kommen konnte. Die Tagung wurde von Studienleiterin Tanja Urban geleitet. Der Beitrag wird in SYM 3/2019 am 1. September erscheinen. Die Ausgabe vob SYM kann dann online hier gelesen oder bestellt werden: www.ev-akademie-boll.de/sym