Aus Anlass der aktuellen Diskussion zur Bedeutung und praktischen Umsetzung des sozialpolitischen Leitbildes „Subsidiarität“ hat die Evangelische Akademie Bad Boll ein Positionspapier veröffentlicht.
Dies berücksichtigt die Kompetenzverteilung zwischen Zivilgesellschaft und den verschiedenen staatlichen Ebenen von der Europäischen Union über die Bundesrepublik Deutschland, der Bundesländern bis hin zu den Kommunen. Es thematisiert die Debatten zum Föderalismus im Bildungsbereich und die zur Privatisierung des Gesundheitssektors. Die Akademie bietet einen Überblick zum Diskussionsstand, den sie im Gespräch mit Vertreter_innen der Politik, der Zivilgesellschaft und der Sozialverbände gewonnen hat und ruft zu einer Neujustierung im Verständnis von Subsidiarität auf.
Das Subsidiaritätsprinzip kann auch weiterhin als der zentrale Bezugspunkt für eine Bewertung gelingender sozialer Beziehungen gelten. Es benennt die Bedingungen, die zu einem Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen. Auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips hat sich der deutsche Sozialstaat entwickelt: Es muss zunächst dem Einzelnen möglich sein, die Freiheit zur Lebensgestaltung eigenverantwortlich auszuüben. Erst wo diese Eigenverantwortung an ihre Grenzen stößt, greift die unterstützende und ausgleichende Solidargemeinschaft, beginnend auf der unteren Ebene von Nachbarschaft, Quartier und Kommune und insbesondere in den bewährten Formen der freien Wohlfahrtsverbände.
In diesem Sinne entwickelten Diakonie und Caritas in Deutschland seit den 1960er Jahren eine starke und kompetente Sozialarbeit. Die gewachsene Mitwirkung der etablierten Wohlfahrtsverbände wurde in den 1980er Jahren durch Selbsthilfegruppen Stück für Stück sinnvoll ergänzt – dies trug sehr zur Verbesserung des sozialen Zusammenhalts bei. Heute jedoch steht das Subsidiaritätsprinzip vor ganz neuen Herausforderungen: Aus Kostengründen steht der Sozialmarkt stark unter Druck.
Hier muss zum einen die Privatisierung und das Prinzip des freien Marktes im Bereich der sozialen Arbeit kritisch begleitet werden. Zugleich aber sehen sich Kirche und Diakonie mit selbstkritischen Fragen konfrontiert: Eröffnen sie in der Gemeinwesenarbeit kleineren Anbietern der Zivilgesellschaft den nötigen Raum zur Teilhabe? Können subsidiär angelegte Projekte in Quartieren nicht nach einer Entwicklungsphase ohne „Gesichtsverlust“ in andere Hände übergeben werden?
Mit Blick auf diese neue Komplexität bringen sich Diakonie und Kirchengemeinden vor Ort mit ihren Netzwerken seit vielen Jahren intensiv in der Ausformung eines veränderten Subsidiaritätsprinzips ein: Gemeinwesenarbeit, quartiersbezogene Dienste und Netzwerkarbeit mit Bewohner_innen haben bürgernahe Räume entstehen lassen. Betroffenengruppen werden ernst genommen, Entscheidungen fallen bürgernah und Eigenverantwortlichkeit wird großgeschrieben. Mit ihren diakonischen Aktivitäten in den Quartieren haben die klassischen Verbände das alte Subsidiaritätsmodell erweitert und ihm damit eine neue Form gegeben. Auch die Kirchengemeinden nehmen in diesem Sinne in den Quartieren engagiert ihren gesellschaftlichen Auftrag wahr. Dieser Weg ist aus Sicht der Akademie konsequent weiterzuverfolgen.
Mit ihrem Positionspapier wirbt die Evangelischen Akademie Bad Boll für eine Neuformulierung des Subsidiaritätsprinzips im Sinne einer fundamentalen diakonischen Öffnung und einer darin gelebten Öffentlichen Theologie. Sie lädt Verantwortliche aus Politik und Kirche zu einem breiten und offenen Diskurs zu diesem Thema ein – ganz im Sinne ihres Mottos: „Im Dialog: Gesellschaft gestalten“.
Hier finden Sie das ausführliche Positionspapier „Subsidiarität vor neuen Herausforderungen“ der Evangelischen Akademie Bad Boll.