„Soziale Normen bilden den Zement einer Gesellschaft“

Soziologe gibt Forschungsüberblick über Geschlechterrollen und Männlichkeitsnormen

Prof. Dr. Kurt Mühler (© Claudia Mocek)

Bad Boll. „Geschlechterrollen sollte es eigentlich nicht mehr geben, aber sie sind allgegenwärtig“, sagte Prof. Dr. Kurt Mühler auf der Tagung „Jugendstrafrecht ist Jungenstrafrecht“, die heute (23.02.2018) begonnen hat. Vor rund 80 Teilnehmenden erläuterte der Soziologe die Erforschung von Geschlechterrollen und Männlichkeitsnormen. 

„Soziale Normen bilden den Zement einer Gesellschaft“, erklärte Mühler. Sie haben die Funktion, individuelles Verhalten zu regulieren und Unsicherheiten zu reduzieren. Ihre Wirksamkeit basiere auf Internalisierung, Sozialkontrolle sowie Sanktionen bei Normverletzungen. 

Im Unterschied zu modernen Rechtsnormen weisen Sittennormen, die durch Interaktionen von Kollektiven entstanden sind, noch zahlreiche Bezüge zum Geschlecht auf: „Unterschiedliche Erwartungen an das Verhalten existieren weiterhin als Sittennorm.“ Das Herausbilden von Geschlechtsidentität und das Streben nach Anerkennung bildeten dabei zwei wichtige Pfeiler. Dabei stelle die Geschlechtsidentität – das Ringen um soziale Verortung und Selbstgewissheit in der frühen Kindheit – die Grundlage für die Internalisierung von Normen dar. 

Innerhalb des Findungsprozesses, der in der Familie stattfindet, suchten sich Kinder „das signifikant Andere“, um sich damit zu identifizieren. Zu einem späteren Zeitpunkt sei es schwer, neue Überzeugungen zu internalisieren. „Es ist also wichtig, wie die erste Identität aussieht“, sagte der Soziologe. Grundsätzlich gebe es damit keine Probleme, solange Kinder zwischen verschiedenen Rollenmodellen wählen könnten. Eine Scheidung könne ein Risikofaktor sein. 

Mühler ging auch auf die historische Entwicklung der Väterrolle ein. Während der Industrialisierung habe eine Umbildung innerhalb der Familie stattgefunden. Der Mann sei in die Erwerbsarbeit gegangen und dadurch zwölf bis 16 Stunden abwesend gewesen, während der Familienalltag vorwiegend durch Frauen geprägt worden sei. Der Abwesenheit des Vaters habe ein positives Bild der Mutter gegenüber gestanden. Die Mythisierung der Mutterschaft als rein und natürlich sei ein tief verankertes Leitbild in der Gesellschaft. 

Im 20 . Jahrhundert habe die Soziologie zunehmend die Vaterschaft betrachtet. Kinder müssten vor dem autoritären, strengen und gewalttätigen Vater geschützt werden, meinten damals manche Wissenschaftler. Seit rund zehn Jahren gibt es Initiativen, die an der Feminisierung von Erziehungsberufen etwas ändern wollen und für mehr Männer als Erzieher und Grundschullehrer werben. „Neue Männer entstehen auf dem Reißbrett“, sagte Mühler. Deren Halbwertzeit sei dementsprechend gering. Auch die Emotionalisierung von Männern führe zu Problemen, da diese von Frauen offenbar als weniger attraktiv wahrgenommen würden. 

Im Bereich Bildung schneiden Jungen schlechter als Mädchen: Weniger Jungen als Mädchen machen Abitur, mehr Jungen als Mädchen haben einen Hauptschulabschluss. Auch die Statistik der Schulschwänzer führen Jungen an. Die Folge: Verringerte Chancen auf dem Arbeitsmarkt und ein höheres Risiko, kriminell zu werden. Während Mädchen nach Leistung strebten, ginge es den Jungen vor allem um Anerkennung. 

Mühler sah auch eine Verflechtung zwischen einer geringe Bildung und der Chance, einen Partner zu finden. In der Forschung sei die Partnerwahl von Frauen gut belegt: Frauen suchen einen Partner, der über eine gleiche oder höhere Bildung wie sie selbst verfügt und einen gleichen oder höheren sozialen Status. „Frauen haben keine Präferenz für Männer mit geringerer Bildung und geringerem Sozialstatus als sie selbst“, sagte Mühler. Gleichzeitig habe die Forschung nachgewiesen, dass zwischenmenschliche Bindungen das Risiko für Kriminalität verringerten. 

Innerhalb der Soziologe hat es bei der Erforschung von Sozialmilieus einen Paradigmenwechsel gegeben, erklärte Mühler: „Die Knappheitsproblematik wurde lange nicht mehr in den Blick genommen.“ In den 1950er Jahren haben Soziologen den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Männlichkeitsnormen folgendermaßen beschrieben: „Das Erfüllen von Unterschichtennormen bringt Jugendliche in Konflikt mit dem Gesetz.“ Da diese Jungen Schule und Wissen als „weiblich“ wahrnehmen würden, glaubten sie, ihr männliches Wissen z. B. in Beleidigungsturnieren auf der Straße lernen zu müssen.

Zusammenfassend erklärte Mühler, dass sich Verhaltensunterschiede vor allem auf Geschlechternormen zurückführen lassen. Diese entfalteten vor allem bei der Ausbildung der Geschlechteridentität ihre Wirkung. Dabei sei männliche Geschlechteridentität überwiegend auf Wettbewerb, Durchsetzung und Selbstsicherheit ausgerichtet. Damit fördere sie aber nicht per se ein sozial unerwünschtes Verhalten. Dies entstehe durch Störungen im Prozess der Identitätsbildung zum Beispiel durch Gewalterfahrung, das Fehlen einer Identifikationsfigur oder einen sozial problematischen Umgang. „Letztlich“, so Mühler, „wird sich das Problem für einen Teil der Menschen nicht lösen.“

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