Solidarität im Quartier in Zeiten der Krise

Drei Beispiele einer erfolgreichen und lebendigen Quartiersarbeit

Quartierskoordinator_innen haben ein spannendes und breites Aufgabenfeld. Sie initiieren und unterstützen soziale, generationenübergreifende und kulturelle Aktivitäten und sie nehmen die Rolle der Brückenbauer_in im Quartier ein, die zwischen den verschiedenen Gruppen vermittelnd tätig ist. Eines ihrer grundlegenden Anliegen ist es, für alle Bürger_innen ein solidarisches Miteinander zu organisieren. In Zeiten von Corona erhält diese Nachbarschaftshilfe nun eine ganz besondere Bedeutung. Denn gerade jetzt ist es wichtig, zusammenzuhalten, sich gegenseitig zu unterstützen und Hilfe anzubieten. Gleichzeitig ist genau das durch die Kontaktbeschränkungen so schwierig geworden.

Wie Quartiersarbeit in diesen Zeiten und unter diesen Bedingungen funktionieren kann, und wie wertvoll sie für unsere Gesellschaft ist, darüber hat sich unsere Studienleiterin PD Dr. Anja Reichert-Schick mit Dr. Sven Fries unterhalten. Der Stadtentwicklungsexperte leitet das Büro „Stadtberatung“ in Ostfildern und Speyer und ist mit seinen rund 30 Mitarbeiter_innen im Bereich der Stadtentwicklung tätig. Er ist ein überzeugter Verfechter von beteiligungsorientierten und praxisnahen Prozessen und damit von einer Arbeit für und gemeinsam mit den Menschen in den Quartieren. Zudem hat sich Anja Reichert-Schick mit zwei Quartierskoordinatorinnen im Rahmen von Telefoninterviews ausgetauscht. Sie berichteten darüber, wie sie ihre Arbeit im Corona-Alltag erleben. Mit welchen Herausforderungen sie umzugehen haben und welche positiven Erfahrungen sie machen durften. Mit 27 Jahren die Jüngste im Kreise der Interviewpartner_innen ist Anika Haas. Sie hat im April 2019 nach ihrem Studium der Sozialen Arbeit und der Gerontologie die Position der Quartiersmanagerin in Besigheim (LK Ludwigsburg) übernommen. Ebenso hat Stefanie Bitzer von ihren Erfahrungen und Eindrücken berichtet. Sie leitet in Großbettlingen (LK Esslingen) das 2017 eröffnete „Forum der Generationen“, das als zentrale Anlaufstelle eine Vielzahl an Angeboten für Jung und Alt bereithält. Zudem ist sie für die rund 4.000 Einwohner zählende Gemeinde in der Rathausverwaltung tätig.

Gerade jetzt brauchen die Menschen Quartiersentwickler

Sven Fries bringt deutlich auf den Punkt, wie wichtig Quartiersarbeit gerade jetzt ist: „Nicht in guten Zeiten zeigt sich Zusammenhalt. Schöne Tagungen mit Podiumsrunden kann man immer machen. Jetzt gilt es, mutig zu sein und sich zu positionieren.“ Wer jetzt aktiv sei, setze in dieser Krise ein gutes Zeichen und sende damit eine wichtige Botschaft für die Verwaltung und die Akteure vor Ort. Gerade jetzt in der Krise „brauchen wir motivierte kommunale Akteure, die die Menschen in den Quartieren kreativ und aktiv unterstützen, den Kontakt halten und Prozesse steuern. Gerade jetzt brauchen die Menschen uns als Stadt- und Quartiersentwickler und als Netzwerker. Nicht weniger, sondern mehr muss das Motto sein!“

Sven Fries plädiert dafür, genau jetzt innovative Projekte und Ideen an den Start zu bringen. Die Digitalisierung spiele hierbei eine tragende Rolle. Digitales Quartiersmanagement, Nachbarschaftsprojekte, digitale Planungsprozesse und vieles mehr könnten jetzt auf die Beine gestellt werden, um den Menschen zu helfen. Sven Fries selbst geht mit gutem Vorbild voran. Er hat direkt nach dem sogenannten Lockdown sein Team umgestellt, die Arbeitspakete umorganisiert und sich mit rund 20 der von ihm betreuten Kommunen digital und kreativ auf den Weg gemacht. Er macht vor, was es heißt, digitale Beteiligungskultur zu leben und hat sogar in sozial benachteiligten Stadtteilen Planungsprozesse gemeinsam mit den Bürger_innen in Form von Webinaren fortgesetzt.

Wie dieses Engagement in der konkreten Praxis der Quartierskoordination aussehen kann, darüber haben Anika Haas und Stefanie Bitzer berichtet. Allerdings war die Neudefinition ihres Arbeitsalltags durchaus mit Herausforderungen verbunden.

In die Zukunft zu denken und Entscheidungen zu treffen, erschien erst einmal nicht mehr möglich

Anika Haas erzählte, dass sie in den beiden ersten Wochen des Lockdowns das Gefühl hatte, arbeitslos zu sein. „Am Anfang war ich fast verzweifelt. Der fehlende Kontakt zu meinen Kolleg_innen, zu Akteur_innen in der Stadt und vor allem auch zu den Bürger_innen hat mich extrem gehemmt. Meine Arbeit besteht eigentlich aus Meetings, Austausch, Netzwerken. Die digitale Welt mit ihren Mails und Videokonferenzen kann den persönlichen Kontakt einfach nicht ersetzen. Meine bevorstehende Haushaltsbefragung musste auf Eis gelegt werden und wichtige Termine wurden abgesagt.“ Besonders bitter war diese Erfahrung für Anika Haas, weil sie nach ihrer fast einjährigen Einarbeitungsphase nun so richtig als Quartiersmanagerin „durchstarten“ wollte. In die Zukunft zu denken und Entscheidungen zu treffen, erschien jedoch erst einmal nicht mehr möglich.

Für Stefanie Bitzer war der Lockdown hingegen zunächst eine durchaus angenehme Entschleunigung. Sie ist in Großbettlingen in vielfältiger Weise engagiert und hat gleich mehrere „Hüte“ auf: Sie ist Quartiersmanagerin, leitet das Forum der Generationen, arbeitet zudem in der Verwaltung des Rathauses und nimmt darüber hinaus auch noch ehrenamtliche Funktionen wahr. Durch die neue Situation ist etwas Ruhe in ihren Alltag eingekehrt. Aber auch bei Stefanie Bitzer hat sich nach einigen Tagen schnell das Gefühl eingestellt, dass ihr etwas fehlt und dass sie vor allem das bunte Treiben im „Forum der Generationen“ vermisst. „Mir fehlt die Umtriebigkeit, der Kontakt, der Trubel. An manchen Tagen bin ich schon froh, wenn der Hausmeister einmal vorbeikommt. Da, wo sonst Leben ist, bestimmen nun Absperrbänder und Leere das Bild.“

Wie es die vielfältigen Aufgaben und Tätigkeiten der Quartierskoordination erahnen lassen, haben sich jedoch für Anika Haas und Stefanie Bitzer rasch neue Betätigungsfelder eröffnet.

Unterstützung und Solidarität finden vor allem „im Kleinen“ statt

Für Stefanie Bitzer ist es ein „riesiger Blumenstrauß an kleinen Dingen und Gesten“, mit denen sie nun ihren Mitmenschen etwas Gutes tut. Im Seniorenbereich sei es vor allem wichtig, mit den Menschen zu sprechen, für sie da zu sein und Kontaktmöglichkeiten anzubieten. „Sie sollen spüren, dass sie nicht alleine sind.“ Vielen Älteren falle der Lockdown extrem schwer. „Etliche kommen normalerweise so gut wie jeden Tag ins Forum. Diese Begegnungen und unsere Angebote kann ein Telefonat natürlich nicht ersetzen, aber ich versuche alles, was irgendwie machbar ist.“

Gleichzeitig sei es wichtig, gerade bei den Älteren auch Aufklärungsarbeit zu leisten. „Wir bieten seitens der Gemeinde Einkaufsdienste an, aber dennoch sehe ich viele Senior_innen, die selbst jeden Tag zum einkaufen gehen. Vielen scheinen die großen Gefahren, die sich mit den Sozialkontakten verbinden, noch immer nicht wirklich klar zu sein.“ In diesem Bereich weiter zu sensibilisieren und die Senior_innen dazu zu ermutigen, Unterstützung anzunehmen, auch das gehöre in diesen Krisenzeiten zum Aufgabenbereich einer Quartierskoordinatorin.

Darüber hinaus hat Stefanie Bitzer nun viel zu organisieren und zu managen. So kümmert sie sich um die Notfallbetreuung von insgesamt zehn Kindern. Sie organisiert Einkaufsfahrten für ältere und kranke Menschen mit dem gemeindeeigenen Bürgerauto. Und sie kümmert sich um die Koordination von Freiwilligen, die nachbarschaftliche Hilfsprojekte unterstützen möchten. Bisweilen öffnet sie auch auf Anfrage die Tauschbücherei, damit den Großbettlingern der Lesestoff nicht ausgeht.

Mit einem neuen Team und digital Hilfe organisieren

Für Anika Haas hat sich der neue Aufgabenbereich dadurch eröffnet, dass ein Einwohner aus Besigheim die digitale Nachbarschaftshilfe „Besigheim hilft“ gegründet hat. Gemeinsam mit der Stadt hat Anika Haas beschlossen, diese Initiative zu unterstützen und ist in das Team eingestiegen: „Das war für beide Seiten eine Win-win-Situation. Denn genau diese Nachbarschaftshilfe ist auch ein Kernanliegen meines Quartiersmanagements: die Bürger_innen dabei zu unterstützen, sich selbst für ihre Interessen einzusetzen.“

Mit „Besigheim hilft“ geht es für Anika Haas nun darum, Helfer_innen zu gewinnen, Hilfe für die Bürger_innen und Akteur_innen der Stadt zu generieren und dafür auf allen Kanälen Werbung zu machen: vom Facebook-Auftritt über Instagram bis hin zum gedruckten Flyer, den jeder einzelne der rund 5.200 Haushalte in Besigheim erhalten hat. Diese „Bringstruktur“ ist dem Team besonders wichtig, um auch die Risikogruppen zu erreichen. Damit sei das Gefühl der „Arbeitslosigkeit“ nun definitiv vorüber und Anika Haas hat wieder „so richtig viel zu tun“. Vom Einkaufen und Gassi gehen über Fahrdienste, Gartenarbeit und Unterstützung bei der Einrichtung von Computern – das Hilfsnetzwerk hat ein breit gefächertes Angebot, das es zu organisieren gilt.

Anika Haas ist nun als Allrounderin gefragt: Sie strukturiert, steuert und managt, sie aktiviert und vernetzt und sie legt ganz konkret Hand an. Ihre Zielgruppe reicht dabei auch in Corona-Zeiten von den Jugendlichen über die Senioren bis hin zu den Unternehmen. Wie man das alles unter einen Hut bekommen kann, zeigte sie mit ihrer Osteraktion, die dank einer Spende möglich wurde. Anika Haas hat für alle 140 Helfer_innen der Aktion „Besigheim hilft“ und für alle Menschen, denen über diese Plattform bereits geholfen werden konnte, kleine Osterüberraschungen gepackt. Darin verstecken sich Produkte aus dem lokalen Besigheimer Handel. Diese Geschäfte hat sie mit der kreativen Aktion nicht nur mit ins Boot genommen, sondern sie werden auch durch den Werbeeffekt unterstützt. Für Muttertag hat sie bereits eine Tulpenaktion geplant, um einer lokalen Blumenhändlerin zu helfen.

Man sieht, wieviel jetzt möglich ist und was unsere Gesellschaft leisten kann

Wenn man Anika Haas und Stefanie Bitzer zuhört, springt der Funke des Engagements regelrecht über. Sie sind mit viel Herzblut dabei und geben den Menschen in ihren Kommunen ganz viel – vom kleinen aufmunternden Gespräch bis hin zu umfangreichen Dienstleistungen. Gleichzeitig aber geraten beide Quartierskoordinatorinnen auch ins Schwärmen, wenn sie über die Menschen in ihren Kommunen sprechen.

Anika Haas erzählt voller Begeisterung: „Man sieht, wieviel jetzt möglich ist und was unsere Gesellschaft leisten kann. Ein Glücksmoment war es zu entdecken, welches Potential in dieser Stadt steckt. Ich bin überwältigt von den positiven Reaktionen. Ich merke, dass ich die Menschen mit meiner Arbeit erreiche. Aus anderen Gemeinden weiß ich, dass man dort seit vielen Jahren versucht eine Nachbarschaftshilfe aufzubauen – und jetzt gelingt es uns in Besigheim von heute auf morgen.“

Auch Stefanie Bitzer findet, dass die große Hilfsbereitschaft, die sich gerade jetzt im Dorf zeige, Mut mache. „Wir werden als offizielle Seite gar nicht so stark nachgefragt, da unsere Dorfgemeinschaft ohnehin sehr gut funktioniert. In dieser Krisenzeit zeigt sich, wie wertvoll funktionierende soziale Netzwerke und Zusammenhalt sind.“ Denn in der unmittelbaren Nachbarschaftshilfe passiere ganz viel. Auch die Vereine und die Kirche seien sehr engagiert und böten verschiedene Dienste an. „Einige musste ich regelrecht bremsen“, erzählt Stefanie Bitzer mit einem Augenzwinkern.

Gemeinsam können wir etwas erreichen

Für Anika Haas ist vor allem die gut funktionierende Teamarbeit eine wohltuende und neue Erfahrung. „Wir vereinen Netzwerke, suchen Schnittmengen, gehen gemeinsam voran und nehmen dadurch die Menschen mit. Wir treffen gemeinsam Entscheidungen und bereichern uns gegenseitig mit Ideen. Das hat mir gezeigt: Gemeinsam können wir etwas erreichen. Wir müssen nur zusammen an einem Strang ziehen. Sprichworte wie „Zusammen ist man weniger allein“ treffen nun voll und ganz zu.“ Dies sei jedoch nicht nur in ihrem Team, sondern in ganz Besigheim sichtbar: „Corona zeigt, wozu wir in der Lage sind. Wir halten zusammen und bewegen gemeinsam ganz viel.“

Die Krise zwingt uns zur Demut

Stefanie Bitzer eröffnet noch eine andere Perspektive. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, dass uns in der Krise bewusst wird, wie gut es uns eigentlich geht. Und wie viele großartige Angebote wir im sozialen und kulturellen Bereich unter normalen Bedingungen jederzeit wahrnehmen können. „Wir haben in einer so extremen Überflussgesellschaft gelebt, dass wir gar nicht mehr richtig wertschätzen konnten, aus welch großem Potential wir schöpfen können“, stellt Stefanie Bitzer fest. „Ganz im Gegenteil, unsere Gesellschaft wird immer anspruchsvoller und verlangt ständig nach mehr. Nun sind wir in der Krise dazu gezwungen, etwas demütiger zu werden und uns mit weniger zufriedenzugeben.“ Stefanie Bitzer hofft, dass unsere Gesellschaft nach der Krise vielleicht etwas dankbarer auf all das schauen kann, was uns tagtäglich ganz selbstverständlich zur Verfügung steht.

Die Krise schärft das Wertebewusstsein

Hinsichtlich der Frage, ob die gegenwärtige Solidaritätswelle lediglich ein Strohfeuer sei oder ob sie unsere Gesellschaft auch nachhaltig verändere, vermutet Anika Haas, dass wir mit dem Ende der Krise mit einem drastischen Rückgang der Hilfeleistungen zu rechnen haben. „Die Menschen werden nicht mehr die Zeit und vor allem nicht mehr die Muße haben, um sich zu engagieren. Viele werden in ihren „Alltagstrott“ zurückkehren.“ Aber gleichzeitig ist sie hoffnungsvoll. Denn „wenn wir jetzt die Menschen verantwortungsvoll integrieren, können wir sie vielleicht halten – auch weil ihnen bewusst wird, dass sie gemeinsam mit uns etwas bewegen können.“

Stefanie Bitzer hat die Hoffnung, dass die Erfahrungen der Corona-Krise unser Bewusstsein für den Wert der Solidarität, des bürgerschaftlichen Engagements und des „füreinander da seins“ schärfen werden. Ob von der großen Solidaritätswelle etwas erhalten bleibt, vermag sie nicht zu beurteilen. „Aber die Menschen werden gerade jetzt für diese Werte sensibilisiert und das kann die Gesellschaft durchaus nachhaltig verändern.“

Jetzt können wir zeigen, was Quartiersarbeit leisten kann

Die Interviews haben gezeigt: Die Corona-Krise bringt viele Einschränkungen mit sich. Aber das ist nicht alles. Es gibt auch eine andere Seite. Die Gesellschaft wächst zusammen, Bürger_innen helfen sich gegenseitig, Kreative sorgen für Abwechslung und Hilfe wird digital koordiniert, um den Menschen zur Seite zu stehen. Diese Maßnahmen bilden ein großes und Mut machendes Forum der Solidarität für all diejenigen, die ihre Nachbarschaft unterstützen wollen. Sie bieten mit ihrem Engagement eine solidarische Perspektive und unterstützen genau die Menschen im Quartier, die von der Gefahr durch das Virus am härtesten getroffen werden. „Angst und Rückzug sind in der Krise schlechte Ratgeber“, mahnt Sven Fries. Aber „wenn wir aktiv bleiben, können wir mit all diesen großartigen Maßnahmen zeigen, was Quartiersarbeit leisten kann und auf wen die Menschen bauen können.“

Die Geographin PD Dr. Anja Reichert-Schick ist seit 2018 Studienleiterin im Themenbereich „Gesellschaft, Staat, Politik“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Stadtentwicklung, Ländliche Räume und Wohnungsbau.

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