Wer an Richard von Weizsäcker denkt, dem fallen in der Regel zwei Dinge ein: Zum einen sein Amt als Bundespräsident, seit 1990 des ersten des wiedervereinigten Deutschland, zum anderen seine Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Wenigen ist klar, dass er seine Ansprache nicht als „gestandener“ (west-) deutscher Bundespräsident hielt, sondern nach nicht ganz einem Jahr im Amt. Sie stellt nichts weniger als einen Paradigmenwechsel dar: Die Deutschen sollten sich in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mehr als nur als Opfer wahrnehmen, sein Ende nicht einfach als jüngsten von vielen Kriegsausgängen, diesmal eben mit negativem Ausgang, sehen.
Es war kein Krieg wie jeder andere. Wer kennt sie nicht, die Deutung aus der eigenen Familie: Schlimm, was der Hitler mit den Juden gemacht habe; aber als Soldat habe der Vater oder Großvater nur unpolitisch sein Land verteidigt. Sich Befehlen zu widersetzen, hätte ja bedeutet, sein Land, seine Heimat, seine Familie zu verraten. 1985 waren im westdeutschen Geschichts- und Erdkundeunterricht noch zuhauf Wandkarten zu finden: Deutschland in den Grenzen von 1937; die geographischen Bezeichnungen natürlich auf Deutsch. Breslau hieß es statt Wroclaw, Königsberg statt Kaliningrad. Der Subtext vermittelte, was durch die „Niederlage“ durch das „Unglück“ des Krieges „verloren“ war. War es da nicht ein natürliches Recht, das zurückzusehnen, was „eigentlich“ dazugehörte? Stattdessen sprach Richard von Weizsäcker nun in schonungsloser Offenheit von Befreiung von einem teuflischen System, Überwindung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Von Erleichterung und Verpflichtung.
Einen solchen Paradigmenwechsel hatte der Redner selbst durchlaufen – und durchaus ambivalent agiert. Es war kein ehemaliger Widerstandskämpfer, der diese Rede hielt. Im Gegenteil, Richard von Weizsäcker war im nationalsozialistischen System groß geworden. Als Sohn des später als Kriegsverbrecher verurteilten Diplomaten Ernst von Weizsäcker 1920 in Stuttgart geboren, verbrachte er seine Kindheit in Basel, Kopenhagen, Oslo und schließlich von 1933-1936 in Bern. Dort wie auch in Berlin ab 1937 brachte er es offenbar zu Führungsfunktionen der örtlichen Hitlerjugend. Den Kriegsbeginn erlebte er als Soldat direkt mit, beim Tod seines Bruders Heinrich bereits am 2. September 1939 war er nur einige hundert Meter entfernt. Er nahm am Überfall auf die Sowjetunion teil, an der mörderischen Blockade von Leningrad, wurde zweimal verwundet und erhielt das Eiserne Kreuz Zweiter und später auch Erster Klasse, für eine weitere Kriegsauszeichnung aufgrund der Rettung vieler Soldaten an der Ostfront war er vorgesehen. Gegen Kriegsende schützte er als Adjutant den Widerstandskämpfer Hermann Priebe vor der Gestapo und erlebte den 8. Mai 1945 gar als Fahnenflüchtiger. In seinen eigenen Memoiren ging Friedrich von Weizsäcker nur lückenhaft auf diese Wegstationen ein.
Nach dem Krieg begann Richard von Weizsäcker Jura zu studieren und unterstützte den Anwalt seines Vaters in dessen Kriegsverbrecherprozess, an dessen Ende Ernst von Weizsäcker zu sieben (später noch verkürzt auf fünf) Jahren Haft verurteilt wurde – „historisch und moralisch ungerecht“, so sah es der Sohn und nahm diese Einschätzung wohl auch zeitlebens nicht zurück.
Dennoch: Richard von Weizsäcker verschrieb sich anders als sein Vater einer christlich geprägten Demokratie und trat 1954 der CDU bei, deren Bundesvorstand er 1966 bis 1984 angehörte. Sein Amt als Präsident des Deutschen evangelischen Kirchentags (1964–1970 und nochmals 1979–1981) war ihm zunächst aber wichtiger als ein Mandat im Deutschen Bundestag. Und so lehnte er eine Kandidatur 1965 wegen möglicher Interessenskonflikte ab und wurde erst 1969 als Nummer Zwei der rheinland-pfälzischen Landesliste hinter Helmut Kohl Bundestagsabgeordneter. Dieser hatte ihn bereits im Jahr zuvor für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen, doch eine parteiinterne Abstimmung konnte er nicht für sich entscheiden. 1976 stellte ihn die Partei dann doch als letztlich aussichtslosen Gegenkandidaten zu Walter Scheel auf. Aber Kirche und evangelischer Glaube blieben ihm weiterhin wichtig – neben seiner mehrfachen Kirchentagspräsidentschaft gehörte er von 1967 bis 1984 auch der Synode und dem Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) an.
1981 wurde er regierender Bürgermeister von Berlin und als solcher der erste, der sich mit dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, traf. Generell wird Richard von Weizsäcker attestiert, die Pflege internationaler Kontakte sei ihm wichtig gewesen – dies zeigte sich dann auch als Bundespräsident, wo er sich nicht zuletzt im Ausland hohe Anerkennung erwarb. Im dritten (parteiintern) bzw. zweiten Anlauf wurde Richard von Weizsäcker zum 1. Juli 1984 als Nachfolger von Karl Carstens als sechster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Er ist bis heute der einzige Amtsträger neben Theodor Heuss mit zwei vollen Amtszeiten, insgesamt zehn Jahre als Staatsoberhaupt.
Seine Rede gut zehn Monate nach Amtsantritt blieb nicht ohne Widerspruch, nicht zu Unrecht. Sie ermöglichte es nämlich durchaus, die Schuldfrage nun einfach auf „das System“ zu schieben; oder schuf die Fiktion eines „eigentlich“ antifaschistischen Deutschlands. Sie zog auch nicht endlich einen Schlussstrich, wie viele forderten. Doch: Was war 1985 in der BRD sagbar und tragbar? Die unterschiedlichen Ansichten gipfelten im Historikerstreit 1986/87. Vielleicht ist es legitim, Weizsäckers Rede zum 8. Mai bei aller Kritik und Ambivalenz als Meilenstein für einen Paradigmenwechsel von einer Opfer- zu einer Verantwortungskultur zu bezeichnen. Seinem Appell am Ende der Rede ist nichts hinzuzufügen. Er ist heute aktueller denn je.
„Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren.
Die Bitte an die jungen Menschen lautet:Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder gegen Türken,
gegen Alternative oder gegen Konservative,
gegen Schwarz oder gegen Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.
Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.“
Richard Karl Freiherr von Weizsäcker war 1984 bis 1994 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Er starb im Januar 2015 in Berlin. Vor wenigen Wochen, am 15. April 2020, hätte er seinen 100. Geburtstag gefeiert.
Dr. Thomas Haas ist seit 2017 als Studien- und Projektleiter tätig und verantwortete das Projekt „Ausbildung interkultureller Lotsen in zwei Landesverbänden“ im Rahmen des BMI-Programms „Zusammenhalt durch Teilhabe“. Aktuell arbeitet er als Studienleiter im Fachdienst Jugend ∙ Bildung ∙ Politik und ist im Themenbereich „Gesellschaft, Politik, Staat“ beheimatet.