Bad Boll. Die Psychiatrietagung „Wir müssen reden – Pillen alleine helfen nicht“, die von gestern früh bis heute mittag in der Evangelischen Akademie Bad Boll stattfand, ist auf ein überaus großes Interesse gestoßen. Es ist ein Thema, das viele bewegt. 150 Teilnehmende trafen sich zwei Tage lang in der Evangelischen Akademie in Bad Boll: Fachleute aus psychiatrischen Einrichtungen, aus der Wissenschaft, niedergelassene Psychiater_innen, Engagierte aus der sozialpsychiatrischen Selbsthilfe, Betroffene und Angehörige. Vorträge zu den Grenzen medikamentöser Behandlung, zum aktuellen Stand der Versorgungsforschung, zu psychosozialen Interventionen sowie zur Bedeutung von Arbeitsbeziehung und Vertrauen bildeten die Grundlage für Diskussionen aus verschiedenen Blickwinkeln.
Prof. Dr. Jürgen Armbruster (Vorsitzender des Fachverbands Psychiatrie / Diakonisches Werk Württemberg) fasst in einem Statement das Anliegen der Tagung zusammen: „Wir müssen reden – Pillen alleine helfen nicht! Was hilft?“ Das Tagungsthema beginnt mit zwei Feststellungen und einer Frage. In der Tat: wir müssen reden. Das ist keine Neuigkeit – bereits Sigmund Freud und Josef Breuer galten Ende des 19. Jahrhunderts als die Erfinder der Redekur. Sie waren der Überzeugung, dass das Aussprechen innerer Konflikte die Seele entlaste und dass traumatische Erinnerungsinhalte durch Erzählen „verarbeitet“ werden können. Auch aus einer systemischen Perspektive zielen die therapeutischen Ansätze bei Psychose-erkrankten Menschen darauf, diejenigen, die aus der gemeinsamen Kommunikation ausgeschlossen wurden oder sich ausgeschlossen haben, wieder in Kommunikation zurückzuführen. Der Open Dialog, die aus Skandinavien importierte Methode der Krisenintervention und der psychotherapeutischen Behandlung zielt darauf ab, die Dialogfähigkeit zwischen allen Netzwerkteilnehmer_innen wieder herzustellen, gemeinsame Schritte auszuhandeln und den Menschen und den Stimmen wieder Geltung zu verschaffen, die vorher exkommuniziert wurden. Wir müssen also auf alle Fälle reden und Begegnung und Kommunikation ermöglichen.
Die zweite Feststellung, dass die Pillen alleine nicht helfen, auch dies wissen wir immer besser. Wir können die Fakten nicht leugnen, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nach internationalen Studien eine um 20-25 Jahre geringere Lebenserwartung haben. Das ist eine Feststellung, die uns in der sozialpsychiatrischen Praxis herausfordert, besonders dann, wenn die Sicherstellung der konsequenten medizinischen Behandlung manchmal zum höchsten Ziel der psychiatrischen Arbeit erklärt wird. Da ist die Formulierung, dass Pillen alleine nicht helfen schon fast verharmlosend. Manchmal schaden sie explizit, zumindest in den verabreichten Dosen.
Die im Titel der Tagung formulierte Frage: Was hilft? öffnet den Horizont. Möglicherweise sind neben dem Reden und den Medikamenten auch der Alltag, die Beziehungen, das Quartier, die Arbeit und die Kunst, das Theaterspielen, das Kunstatelier und die Musik wirksam.
Dr. Martin Roser, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Rudolf-Sophien-Stift,
Stuttgart, würdigt in seinem Beitrag zwar die medizinischen Fortschritte im Bereich der Psychopharmaka, sieht aber auch Grenzen: „In der Behandlung von psychischen Erkrankungen haben Psychopharmaka in der Mitte des letzten Jahrhunderts einen sehr großen Fortschritt gebracht, und auch heute noch sind die Besserungen, die durch sie erzielt werden können, immer wieder sehr beeindruckend. Dennoch haben sich trotz vielfältiger Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der Psychopharmakologie in den letzten 30 Jahren auch zunehmend die Grenzen dieser Behandlungsmethoden gezeigt und wir haben heute ein weitaus differenzierteres Verständnis für den Stellenwert der Psychopharmaka im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans. Psychopharmaka brauchen sich hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nicht hinter anderen Medikamenten der Medizin zu verstecken, sie stellen oft erst eine Therapiefähigkeit bei den Betroffenen wieder her, so dass dann andere Therapieverfahren nichtmedikamentöser Art greifen können.“
Achim Dochat, Geschäftsfeld Sozialpsychiatrie, BruderhausDiakonie, Reutlingen verbindet mit seinem Blick in die 70er und 80er Jahre die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung: „Was hilft? Die wegweisenden Befunde zu dieser Kernfrage psychiatrischer Versorgung haben Prof. Dr. Luc Ciompi und seine Arbeitsgruppe in Bern schon in den 70er und 80er Jahren entwickelt. Sie haben gezeigt, dass therapeutische Arbeit mit psychisch kranken Menschen in erster Linie Beziehungsarbeit ist, und die Erfolgserwartungen der Therapeuten, also ihr Zutrauen in die Ressourcen der Klienten das wesentliche Erfolgskriterium. 40 Jahre neurologische und pharmakologische Forschung mit hohem Mitteleinsatz haben seitdem diese Erkenntnisse nicht entkräftet, eher noch bestätigt. Es geht uns also um einen Blick auf den aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Bedeutung und Wirksamkeit nicht-medikamentöser Therapie- und Unterstützungsformen, der auch das Gefühl der nichtärztlichen Mitarbeiter_innen psychiatrischer Einrichtungen für den Wert des eigenen Beitrags stärkt.“
Prof. Dr. Luc Ciompi, Schweizer Psychiater und Begründer des Konzepts der Affektlogik zu den Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken sowie der therapeutischen Wohngemeinschaft „Soteria Bern“ war auch Referent der Tagung.
In den Workshops konnte man sich vertieft und mit methodischer Vielfalt über einzelne Therapie- und Angebotsformen aus der Praxis informieren und Netzwerke bilden.
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