„Ich war überrascht.“ Christa Engelhardt hatte sich 1985 als junge Studentin spontan auf eine Studienleiterstelle an der Evangelischen Akademie Bad Boll beworben. Nie hatte sie damit gerechnet, eine Zusage zu erhalten – und letztlich bis zu ihrem Ruhestand 35 Jahre später, an der Evangelischen Akademie Bad Boll zu bleiben.
Denn gerade erst hatte sie ihr Pädagogik-Diplom in der Tasche und das Examen in Theologie stand noch aus. Da stieß sie in der Stuttgarter Zeitung auf die Ausschreibung für eine halbe Studienleiterstelle im Referat Pädagogik in Heilbronn – eine von damals mehreren Außenstellen der Evangelischen Akademie Bad Boll. Sie sei größenwahnsinnig, sich frisch von der Uni kommend auf eine solche Stelle bewerben zu wollen, war die Reaktion ihres Umfeldes. Also konnte das „Spiel“ beginnen, denn als solches sah Christa Engelhardt ihre Bewerbung. Der Wetteinsatz: drei Flaschen Sekt. Ihre Mitbewerber: drei Pfeife rauchende ältere Männer mit Berufserfahrung. Ihre Erfolgschancen aus ihrer Sicht: gleich Null. Was folgte, war eine Zusage.
Der geplante dreimonatige Aufenthalt in Spanien konnte gerade noch realisiert werden und die junge Pädagogin trat zum 1. Dezember 1985 ihre Stelle als Studienleiterin in Heilbronn an. Learning by doing war nun angesagt, denn von der Tagungsorganisation hatte sie anfangs natürlich keine Ahnung. Und mit der Akademie verband sie bis dato lediglich die Erinnerung an einen konstruktiven und methodisch vielfältigen Tagungsaufenthalt in der Villa Vopelius während ihrer Schulzeit.
Doch Christa Engelhardt eignete sich das benötigte Knowhow schnell an. Und sie hatte ein Gespür dafür, aktuelle und relevante Themen zu identifizieren, indem sie mit ihren Kooperationspartnern, wie z.B. Gewerkschaften, vorab deren Bedarfe analysierte. Schon immer verstand sie sich als „Geburtshelferin“ für die Ideen, die Ressourcen und Anliegen der Zielgruppen sowie das Wissen der Referierenden und Teilnehmenden.
„Was willst du, daß ich dir tun soll?“ (Lukas 18,41) Erst viel später wurde Christa Engelhardt bewusst, dass sie als Studienleiterin denselben „Dienstleistungsgedanken“ lebte wie Jesus, als er bei Jericho auf einen Blinden traf und diesen nach dessen Wunsch fragte, ohne ihn dabei missionieren zu wollen. Christa Engelhardt verfolgte über all die Jahre einen Ansatz auf Augenhöhe, und sie verstand sich auch immer als Lernende. Und das musste sie auch sein.
Denn nach ihrer ersten Studienleiterinnenstelle in Heilbronn folgten diverse Tätigkeiten in wechselnden Referaten und Arbeitsbereichen an verschiedenen Standorten: 1988, Referat Kommunikation und Studien in Bad Boll, 1990, Referat Pädagogik und Bildung in Reutlingen, 2000 dann der Wechsel nach Bad Boll, da verschiedene Außenstellen Kürzungen und Einsparmaßnahmen zum Opfer fielen. In Bad Boll war Christa Engelhardt erst dem Arbeitsbereich Theologie, Kultur, Bildung, dann dem Bereich Politik, Recht, Gemeinwohl zugeordnet. Zuletzt waren ihre Arbeitsschwerpunkte Lebensformen, Diversity und Soziales, bevor sie dann zum Jahreswechsel 2020/2021 in den Ruhestand eintrat.
Gerade die Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen erfordert ein besonders Händchen und Einfühlungsvermögen, so dass die Veranstaltung für jede und jeden zu einer bereichernden Erfahrung wird. Dies war eine Herzensangelegenheit für Christa Engelhardt. Dafür waren für sie eine aktive Mitgestaltung und Teilhabe nach den individuellen Möglichkeiten, ein vielseitiges Team und eine gute Atmosphäre besonders wichtig. „Es gibt kein Schema-F bei solchen Tagungen. Man muss flexibel und präsent sein, um jeweiligen stimmigen Impulsen zu folgen“. Die Diplom-Pädagogin erinnert sich noch gut daran, wie nervös sie bei ihrer ersten Tagung mit rund 150 Menschen mit Handicap war. Und daran, dass sie ein Stoßgebet absetzte, mit der Bitte um die richtige Sprache bzw. wo nötig auch die passende nonverbale Kommunikation. Und sie ist bis heute von der sehr ausgeprägten emotionalen Intelligenz von Menschen mit Handicap begeistert sowie von deren beeindruckenden gegenseitigen Unterstützung und Fehlertoleranz. Thematisch ging es im Bereich Inklusion v.a. um die politische Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in alle Bereiche des Lebens (z.B. Arbeit, Wohnen, Kultur).
Ein weiteres prägendes Ereignis als Studienleiterin war für Christa Engelhardt die Tagung „Patente, Profite und AIDS“ 2002. Eine mehrtägige Tagung, international besetzt mit Gästen aus Indien, Brasilien, Kuba, Afrika etc. und mit einem hoch brisanten Thema. Eine Tagung, die Christa Engelhardt auf vielfache Weise im Gedächtnis geblieben ist und an welche sie im Rahmen der Corona-Pandemie und den Debatten um Medikamentenzulassung, Lizenzen, Patentrecht notgedrungen wieder denken muss. Denn bereits 2002 wurde der Patentschutz kritisiert, der dafür sorgt, dass neue AIDS-Medikamente unbezahlbar für die Armen sind und wodurch wiederum der illegale Medikamentennachbau gefördert und ethisch notwendig wird. Eine teilnehmende Ärztin aus Nigeria erzählte damals, dass ihr bei ihren Aidspatienten, in Ermangelung der adäquaten Medikamente, nichts anderes möglich sei, wie deren Hand zu halten während sie sterben.
Christa Engelhardt hat 35 Jahre der 75-jähringen Akademiegeschichte mitgestaltet und den Wandel der Akademie sowie diverse Perspektivwechsel aktiv erlebt. Für sie gibt es kein auseinanderdividieren von Forum und Faktor. In ihrer Erinnerung wurde vor 35 Jahren im Vergleich zu heute in der Akademie mehr darum gestritten, was gesellschaftlich und politisch relevant ist. 35 Jahre, in denen sich auch die Rolle der Studienleitenden verändert habe und das Tagungsbudget immer wichtiger wurde. In der Gründungszeit der Akademie nach dem zweiten Weltkrieg war der „Hunger nach Wissen und dem demokratischen Diskurs“ besonders groß. Heute stehen, laut Engelhardt, darüber hinaus Begegnungen mehr denn je im Fokus. Hierfür muss die Akademie der Ort bleiben, um auch der informellen Begegnung ausreichend Raum zu geben. Und sie ermutigt die Akademie Vielfalt als Bereicherung wertzuschätzen. Denn nur durch Förderung der Vielfalt gibt es eine sichere Zukunft in den Bereichen Bildung, Kultur und Natur.
Langeweile nach ihrer Akademiezeit war für Christa Engelhardt nie ein Thema. Eigentlich hatte sie geplant, viel zu reisen, doch in Zeiten der Corona-Pandemie ist es ihr vorerst besonders wichtig, sich und andere zu schützen. Und sie spielt aktuell mit dem Gedanken, sich ehrenamtlich zu engagieren. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr doch einmal langweilig werden sollte, hat Christa Engelhardt einen Hängeordner im Schrank, in welchem sie seit Langem auf kleinen Zetteln Ideen und Vorhaben für ihren Ruhestand notiert hat – Saxophon lernen, Bücher lesen, Freunde treffen etc. Worauf sie sich im Ruhestand besonders freut, ist unverplante Zeit, ein ganz normales Leben ohne den Fokus aufs „Pflichtbewusstsein“. Dafür mit viel Spaß, Leichtigkeit und Zeit zum Experimentieren. Christa Engelhardt fotografiert für ihr Leben gern, sie hält alles mit ihrer Kamera fest, was ihr vor die Linse kommt. Entsprechend hält sie es einfach wie der Clown in Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“: „Ich sammle Augenblicke“.
In diesem Sinne wünschen wir ihr einen offenen Blick für die kleinen Dinge im Leben und dass sie sich daran noch lange erfreuen kann.