„Dass wir heute trotz Corona zusammenkommen können, ist für mich ein wichtiges Zeichen, mit allen Einschränkungen, die damit leider auch einher gehen“, eröffnete Prof. Dr. Jörg Hübner, seit 2013 Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll, den Festakt.
Seit vergangenem Jahr liefen die Vorbereitungen für das Jubiläumsjahr 2020 an der Evangelischen Akademie Bad Boll auf Hochtouren – und dann kam Corona. Doch die Akademieleitung hatte sich bewusst dazu entschlossen, den Festakt, wenn auch mit erheblichem Mehraufwand und natürlich unter Corona-konformen Bedingungen, durchzuführen.
Die Begrüßung des Direktors fiel daher umso herzlicher aus und galt allen rund 180 anwesenden Gästen. Diese waren Corona-bedingt auf drei große Säle verteilt und folgten den Feierlichkeiten teils über Großbildleinwände. „Wir freuen uns sehr, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Sie nehmen daher teil an dem, was ganz grundlegend zu uns gehört: das Gestalten, das Bauen von Brücken, von Kommunikationsbrücken, von Themenbrücken, von Zukunftsbrücken. Oder eben mit unserem Motto: „Im Dialog: Gesellschaft gestalten“. Und Akademiedirektor weiter: Nicht nur die Pandemie stelle eine große Herausforderung für unsere Demokratie, für unser Wirtschaften wie für unser Zusammenleben dar. „Diese Akademie wollte und will aus christlicher Verantwortung heraus der Demokratie dienen“, so Direktor Hübner über den 1945 formulierten Auftrag der Akademie. Und er bekräftigte, dass die Akademie ein Ort für alle Menschen sei, an dem „,im Lichte des Evangeliums‘ die gesellschaftlichen Zukunftsfragen diskutiert wurden und werden“.
Ansprachen und Festrede
Neben Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble und Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July überbrachte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann seine Glückwünsche. Er betonte die Unverzichtbarkeit von Institutionen wie den Kirchlichen Akademien für unsere freiheitliche Gesellschaft, „weil fairer Dialog, zivilisierter Streit unser Gemeinwesen bereichert und es Institutionen braucht, die dies vorleben.“ Die evangelische Akademie Bad Boll sei ohne Zweifel ein solcher Ort, so der Ministerpräsident, wo über alle Unterschiede hinweg Zusammenhalt praktiziert werde. Und die Akademie Bad Boll sei ein Labor des gesellschaftlichen Zusammenhalts, das sei gelebte Politik, so Winfried Kretschmann. „Hier wird erlebbar, was Ziel allen gesellschaftlichen Zusammenlebens sein muss: die Verschiedenheit zu akzeptieren, den Austausch zu suchen, den Kompromiss zu schmieden. In einer Zeit, in der der Umgangston rauer, die Fliehkräfte größer werden, tun gesellschaftliche Kräfte not, die mit aller Kraft dagegenhalten.“
„Die Gründung der Akademie geschah nicht zufällig im Herbst 1945“, betonte Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July bei seinem Blick auf den Ursprung der Akademie. Denn nach dem Ende von Krieg und Nationalsozialismus stand die schmerzliche Einsicht, dass auch die Evangelische Kirche Schuld auf sich geladen hatte. Diese Einsicht sei das Fundament der späteren Akademiearbeit, so der Landesbischof. Die Pandemie habe uns alle gelehrt, „dass für einen intensiven Gedankenaustausch, kreative Prozesse und vielstimmige Aushandlungsprozesse das persönliche Zusammentreffen eine neue Wertschätzung erfahren hat.“ Für Frank Otfried July war und ist der Auftrag der Akademie: „Einmischen, Partei sein, Player auf einem Marktplatz der Debatten. Aber zugleich auch Marktplatz. Dieser Auftrag der Akademie ist eine Anwendung christlicher Freiheit“.
Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble begann seine Festrede mit einem Zitat: „Deutschland kann nur wieder zu sich kommen, wenn wir Deutschen in der Kommunikation zueinanderfinden.“ Ein Zitat von Karl Jaspers, entstanden in der unmittelbaren Nachkriegszeit, das für den Bundestagspräsidenten auch heute noch Gültigkeit habe. Die Form des respektvollen Austauschs, wie ihn die Kirchlichen Akademien – allen voran die Evangelische Akademie in Bad Boll – von Beginn an praktizierten, trage zu einer stabilen Grundlage für die Demokratie bei. „Für uns sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Frieden selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit hat diese Pandemie erschüttert. Das wir unter den besonderen Bedingungen dennoch zusammenkommen, und das Jubiläum der Evangelischen Akademie Bad Boll feiern können, ist ein wichtiges Zeichen dafür, selbstverständlich all das zu tun, was unter Einhaltung aktuell zwingend notwendiger Hygiene- und Abstandsregeln möglich ist.“ Verbunden mit seinen Glückwünschen ermutigte der Bundestagspräsident die Akademie zum Weitermachen: „Wir brauchen sie – wahrscheinlich dringender denn je, um in der Kommunikation zusammenzufinden.“
Bundestagspräsident im Dialog mit drei jungen Gästen
Über Demokratie, Teilhabe und Gesellschaft sprach der Bundestagspräsident im Anschluss mit drei jungen Gästen. So befragte Jessica Hubbard, Abiturientin und Mitglied der Fridays for Future-Landesorganisation Baden-Württemberg, Wolfgang Schäuble nach dem Gefühl von Demokratie zu verschiedenen Zeitpunkten seiner politischen Laufbahn. „Wie ist Demokratie und der offene politische Dialog innerhalb einer Gesellschaft möglich, wenn sich die Gesellschaft selbst immer weiter spaltet?“, wollte die Abiturientin und ehemalige Talent im Land-Stipendiatin, Manuela Godevi, von Dr. Wolfgang Schäuble anschließend erfahren.
Vertrauensverlust in die Politik auf der einen Seite, Lust an politischer Mitbestimmung auf der anderen Seite – Leandro Cerqueira Karst, ehemaliger Landesschülerbeiratsvorsitzender, Student, SWR-Rundfunkrat und Gemeinderat Birkenfeld, interessierte sich dafür, wie Beteiligung und demokratisch-repräsentative Politik verzahnt werden kann, und wie ein Dialog auf Augenhöhe zwischen jungen Menschen und Politikern machbar ist.
Akademiepreisträger: „Investigate Europe“
Den würdigen Abschluss des Festaktes bildete die Preisvergabe des mit 3.000 Euro dotierten Akademiepreises „Werte leben – Zukunft gestalten“. Der Fokus der diesjährigen Ausschreibung lag auf Europa und damit auf Initiativen, die die Europa-Idee aktiv fördern. In seiner Laudatio hielt Dr. Ulrich Bausch, Mitglied des Kuratoriums der Akademie, ein Plädoyer für das Friedensprojekt Europa. „Auf dem Weg zu einem starken und vorbildlichen Europa dürfen wir vor Missständen nicht die Augen verschließen, im Gegenteil, wir müssen uns ihnen stellen – auf Grundlage einer gemeinsamen europäischen Perspektive.“ Die Arbeit des Preisträgers „Investigate Europe“ sei vorbildlich und preiswürdig. Denn das Team mit Journalisten in neun europäischen Ländern hat es sich zur Aufgabe gemacht, „nationale Sichtweisen durch europäische zu ersetzten“. Statt aus Deutschland heraus zu recherchieren, kommen die italienischen oder irischen Kolleg_innen zu Wort, um so europäische Perspektiven zu ermöglichen. Reporter und Mitgründer von „Investigate Europe“, Harald Schumann, freute sich besonders darüber, dass gerade das Konzept des Arbeitens „über die Grenzen hinweg im europäischen Team“ den Zuschlag für den Preis brachte. Ihr wichtigster Wunsch sei es, dass diese Methode Schule mache. Wozu diese Auszeichnung beitragen könne.
Tanz, Gesang und Schiffschaukel
Bereits vor dem Festakt erwartete die Gäste ein vielseitiges Rahmenprogramm: Stumme Tänzer_innen säumten den Aufgang zur Tagungsstätte. „Paar-Tanz-Solo“ nannte sich die von Akademiemitarbeitenden aufgeführte Kunstperformance des Performancekünstlers Simon Pfeffel. Die Aktion thematisierte das aktuell geforderte menschliche Verhalten in Zeiten der Pandemie – das Abstandhalten, ad absurdem geführt durch den Akt des Paartanzes, der nicht ohne Körperkontakt funktioniert.
Den Innenhof – die Piazza – der Tagungsstätte dominierte eine große „Schiffschaukel“, die ganz bewusst Assoziationen an Flüchtlingsbote weckte. Aktionskünstlerin Marie Lienhard gab ihrer Installation daher auch den Titel: „Leave-No-One-Behind“.
Im Anschluss an den Festakt ab 17.30 Uhr präsentierten die Dialogteams und Fachdienste ihre Akademiearbeit in den Räumen der Villa Vopelius und des Südflügels. Eine Bilderausstellung im Hauptgebäude zeigte Ausschnitte aus 75 Jahre Akademiegeschichte. Für das leibliche Wohl der Gäste sorgte die Küche der Tagungsstätte mit allerlei Köstlichkeiten rund um den Festakt. Und den musikalischen Rahmen gestaltenden das Duo „Wild Strings“ im Festakt (Sebastian Caspar (Violine) und Michael Riemer (Gitarre)) und die Tanzband „Blue Stars“ (Ingrid Schneider (Gesang), Jürgen Rothfuß (Keyboard und Gesang)) im Symposion.
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