Polen ist ein Land im Umbruch. Auch zwanzig Jahre nach dem Zerfall des Kommunismus ist die Gesellschaft auf der Suche nach sich selbst. Selbstbewusst könnten die Politiker in Warschau auf die herausra-gende Rolle Polens bei der Demontage des sowjetischen Unterdrückungsregimes hinweisen.
»Es begann in Gdansk« lautet der griffige Slogan, mit dem vor allem die Deutschen darauf hingewiesen werden sollen, wo die Wurzeln der im Jahr 1989 gewonnenen Freiheit zu suchen sind. »Doch es gibt kaum ein Volk, das sich immer wieder so stark in Frage stellt wie die Polen«, formuliert der polnische Journalist Wawrzy-niec Smoczynski Ende Juli bei der Tagung »Polen heute 20 Jahre nach dem Runden Tisch« in Bad Boll einen grundlegenden Wesenszug seiner Landsleute.
Polen hadert: mit der eigenen Geschichte, seiner Rolle in Europa und vor allem mit dem mächtigen Nachbarn Deutschland. »Wir orientieren uns an den großen Ländern in der Europäischen Union und unter diesen natürlich vor allem an Deutschland«, sagt Wawrzyniec Smoczynski, der für die liberale Wochen-zeitung »Polityka« arbeitet und sich in Bad Boll auf die Suche nach der Identität Polens machte.
Tatsache ist: Polen nimmt Deutschland fast schon mikroskopisch genau wahr. Was jenseits der Oder geschieht, findet oft seinen Widerhall in der polnischen Innenpolitik. Und Deutschland? Zwar besucht Kanzlerin Angela Merkel häufig die Nachbarn. Und Bundespräsident Horst Köhler hat nach seiner Wahl vor wenigen Wochen zu-erst den Weg nach Warschau gefunden. Das ändert allerdings nichts an der Tatsa-che, dass Deutschland Polen weit weniger Bedeutung zumisst als umgekehrt.
Die Berliner Innenpolitik kümmert sich herzlich wenig um die Befindlichkeiten im Osten. Die Beziehung zwischen den Ländern ist auch eine Geschichte der fast schon Jahrhunderte andauernden Asymmetrie, die sich auch mit dem Beitritt Warschaus zur Europäischen Union nicht wesentlich verändert hat. »Die Deutschen wissen einfach zu wenig über Polen«, bringt es die Bundestagsabgeordnete Angelica Schwall-Düren in der abschließenden Podiumsdiskussion auf den Punkt. Doch richtet die Politikerin nicht nur an ihre Landsleute den Appell, den Blick häufiger nach Osten schweifen zu lassen. »Polen muss sich selbst mehr einbringen in der Europäischen Union.«
Dennoch sieht sie das Land auf einem guten Weg. »Die Wahl von Jerzy Buzek zum Präsidenten des Europäischen Parlaments in Straßburg ist mehr als nur eine Formalie«, betont sie, »es ist ein Zeichen, dass Polen angekommen ist in Europa.« In der EU und auch in der Nato sitzen Polen und Deutsche erstmal aus Überzeugung gemeinsam auf der gleichen Seite. Doch auch in Bad Boll kommt es immer wieder zu Tage, dass es die Polen ihren Partnern nicht immer leicht gemacht haben. Die ersten polnischen Schritte in der EU haben viel Ärger ausgelöst: Das bisweilen unwürdige Durcheinander um den Vertrag von Lissabon, der »Brief der Acht«, eine Loyali-tätserklärung an Washingtons Adresse im Irak-Krieg oder auch der mit den USA ausgehandelte Raketen-schirm.
»Bei der Wahl der Waffen in der politischen Auseinandersetzung hat Polen leider häufig zum Säbel und nicht zum Florett gegriffen«, meint der Europaabgeordnete Rainer Wieland in Bad Boll. Offenbar wurde bei diesen Auseinandersetzungen, wie sehr historische Traumata nachwirken, welcher Nachholbedarf nach Anerkennung auf Seiten Polens besteht, wie viel Erfahrung auf dem Parkett fehlt und wie enorm die Ungleichzeitigkeit ist. Es stolperte die politische Klasse eines Landes ins neue Europa, das zu Recht von sich sagt, es ist zu groß, um nicht Einfluss nehmen zu dürfen.
Wie wichtig Europa und die Mitgliedschaft in der EU und auch der Nato für Warschau ist, machte Mal-gorzata Lawrowska während der Podiumsdiskussion am Sonntag deutlich. »Polen war in seiner Geschich-te oft Spielwiese für andere Mächte«, erklärt die Vertreterin der polnischen Botschaft in Berlin. »Seit dem Beitritt zur Nato und zur EU sind wir aus der Rolle des Objektes herausgetreten und zum Subjekt gewor-den.« Sie machte deutlich, dass die Zugehörigkeit zu internationalen Organisationen für ihr Land von fast existentiellem Interesse ist. »Wir liegen am Rand von Europa, in solch einer Situation bedeutet starke Verbündete zu haben Schutz und Sicherheit.«
Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist allerdings gerade für Polen eine Gratwanderung. »Viele haben Angst, dass Polen in der EU seine Identität verliert«, erklärt Wawrzyniec Smoczynski das kaum zu lösende Dilemma. Für Polen käme dies einer Katastrophe gleich. Der Historiker Norman Davies schreibt, wenn man über das Schicksal Polens nachdenke, gelange man zu den tiefsten Rätseln der Geschichte. »Wenn Polen wirklich zerstört wurde, wie konnte es dann später wiederbelebt werden? Wenn Polen wie-derauferstand, dann muss es etwas geben, das seine physische Vernichtung überstand.«
Dieses »etwas« hat auch die jahrzehntelange Unterdrückung durch die Kommunisten überlebt und schließlich den Menschen in der Lenin-Werft in Danzig die Kraft gegeben, sich gegen das Regime zu stemmen. Doch Polen war schon nach wenigen Jahren bereit, Teile der mit Blut erkämpften Freiheit an Brüssel abzugeben. Wer diese Geschichte Polens kennt, weiß, welch enormer Vertrauensbeweis das war.
Knut Krohn
(Korrespondent der Stuttgarter Zeitung in Warschau)