Am Freitagnachmittag wurde die gesellschaftliche Wahrnehmung der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung, der Heim-, Versuchs- und Wildtiere beleuchtet.
Der Kommunikationskoordinator der Organisation Beyond Carnism, Jeff Mannes, erläuterte den Wertewandel in Bezug auf Tierwahrnehmung. Dabei ging er auf den Karnismus ein – das Glaubenssystem, das Menschen darauf konditioniert, Tiere oder bestimmte Tierarten zu essen. Da das Essen von Tieren in den meisten Ländern nicht überlebensnotwendig ist, sei es eine Entscheidung, die auf bestimmten Überzeugungen beruhe. Grundlegende Annahmen, so Mannes, die man aber auch in Frage stellen könne.
Über die gesellschaftliche Wahrnehmung der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung referierte Dr. Inken Christoph-Schulz vom Johan Heinrich von Thünen-Institut. Obwohl die Ausgaben für Lebensmittel in Deutschland seit 1970 mit 25 Prozent „mächtig gesunken“ sind, „lieben die Deutschen sehr ihre tierischen Lebensmittel“, ist die Referentin überzeugt.
Aber was denken Verbraucher: Wie geht es den Schweinen, Kühen und Hühnern bevor sie geschlachtet werden? Wie werden sie gehalten, was bekommen sie zu fressen? Christoph-Schulz berichtete von Studien des Social Labs „Nutztiere im Spiegel der Gesellschaft“, das sie koordiniert, bei denen nicht-repräsentative Gruppendiskussionen über Tierhaltung geführt werden. Die Referentin skizzierte zwei Extrempole, zwischen denen sich die Haltungen der Verbraucher bewegen. Die einen sind davon überzeugt, dass Tiere über Instinkte verfügen und leiden, wenn sie nicht artgerecht gehalten werden. Die anderen sind der Auffassung, dass Tiere nicht leiden, weil sie nicht wissen, wie ein Leben unter anderen Bedingungen aussehen könnte.
Zusammenfassend bewertete Christoph-Schulz die Ansprüche, die an Lebensmittel gestellt werden, als hoch – obwohl relativ wenig Geld dafür ausgegeben werde. Auffallend sei die fehlende Kenntnis der Verbraucher über die Haltung von Nutztieren. Oft würden die Bedürfnisse von Menschen auf die Tiere übertragen („Eine Kuh ist auch nur ein Mensch“) und Landwirte unter Generalverdacht gestellt.
Dr. Christine Bothmann vom Bundesverband der beamteten Tierärzte betrachtete die historische Entwicklung der Heimtierhaltung bei den Tierarten Hund, Katze, Nagetier, Vogel und Reptil. Während zum Beispiel der Hund in der Steinzeit als Nahrungslieferant, Bewacher und Zuchttier eingesetzt worden sei, avancierte er im Mittelalter darüber hinaus zum Statussymbol und zur Arbeitshilfe. In der Neuzeit seien therapeutische Funktionen hinzugekommen. Aus dem Hund sei zudem ein Familienmitglied, Begleiter und „Sportgerät“ geworden. Als Nutztier für den Menschen befriedigen Heimtiere menschliche Bedürfnisse, betonte Bothmann. Vor diesem Hintergrund fragte sie nach dem Nutzen für die Tiere sowie den Chancen und Ansprüchen, die sich dadurch für den Tierschutz ergeben.
Im Fokus von Dr. Reinhart Kluge von der Gesellschaft für Versuchstierkunde stand die gesellschaftliche Wahrnehmung von Versuchstieren. Zwischen dem Wissen über und der Meinung zu Versuchstieren gibt es Kluge zufolge eine große Diskrepanz. Erfolgreich transplantierte Patienten bewerteten Tierversuche positiv, während sich ein Patient nach einer erfolglosen Operation eher negativ äußern würde. Medien würden je nach Situation berichten, auch in den Wissenschaften werde das Thema Tierversuche kontrovers diskutiert. Gleichzeitig gebe es Forderungen nach einem intensiven Dialog, ein Bedürfnis nach sachlichen Informationen und nach einer offenen Kommunikation.
Auf die Wahrnehmung von Wildtieren ging Dr. Rudi Suchant von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg, Abteilung Wildtierökologie, ein. Auch bei Wildtieren beobachtet er die Ambivalenz des Mensch-Tier-Verhältnisses: „Die einen Tiere werden genutzt, die anderen geschützt.“ Am Beispiel des Wolfes, der von Naturschützern als Bereicherung angesehen und von Landwirten sowie Schäfern als Bedrohung erlebt werde, erläuterte er das Wildtiermanagement.Die Anforderungen an Schutz-, Entwicklungs- und Nutzungsmanagement seien vielfältig. Suchant machte zwei Diskussionsebenen aus: den inhaltlichen Konflikt zwischen den Betroffenen und den Beziehungskonflikt zwischen den Betroffenen und der Gesellschaft. Für Suchant steht fest: „Schützen und Nutzen lassen sich nicht klar trennen.“ Eine klare Kommunikation sei hier entscheidend für den Prozess der Bewusstseinsbildung.
Die zentrale Frage der Tagung war die Umsetzung der beobachteten veränderten gesellschaftlichen Werthaltungen in konkrete Verbesserungen in der Tierhaltung. Die Maßnahmen bewegen sich in einem Spannungsverhältnis zwischen „Government“, verstanden als der traditionellen Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse durch Recht und Gesetz, und „Governance“, der Freiwilligkeit des Engagements durch Bürger, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und andere Akteure. Prof. Dr. Karl Martin Born von der Universität Vechta stellte Governance-Ansätze und Erfahrungen vor aus seiner Forschung zu Steuerungsmöglichkeiten gesellschaftlich erwünschter Entwicklung im ländlichen Raum. Anknüpfungspunkte für den Tierschutz sah er in Beteiligungs- und Dialogprozessen. Diese ermöglichen es, zuzuhören, Akteure aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, Neues zu denken und „undogmatisch sympathische Dinge zu tun“.
Dr. Michael Kopatz vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie dagegen setzt darauf, dass verbindliche Standards und Limits die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass „wir tun, was wir für richtig halten“. Für die Landwirtschaft könnte das bedeuten, die Standards über einen Zeitraum von 20 Jahren europaweit auf das Niveau der Bioverbände anzuheben, damit einerseits alle Landwirte und Produzenten unter den gleichen Bedingungen arbeiten und andererseits Klima- und Tierschutz nicht nur ins Belieben des Verbrauchers gestellt sind. Gleichzeitig müsse aber auch weniger Fleisch konsumiert und auf Fleischexporte verzichtet werden.
Dr. Günter Renz illustrierte den Wertewandel anhand der Häufigkeit, mit der bestimmte Begriffe – wie „Zivilcourage“ oder „Sensibilität“ - in Veröffentlichungen verwendet wurden und wie sich diese Häufigkeiten über die Jahrzehnte verändern. Weltweit nehme die Bedeutung emanzipatorischer und demokratischer Werte zu. Gesellschaftliche Transformationsprozesse erfordern jedoch mehr als ein moralisches Fundament aus Werthaltungen. Renz zeigte, dass unmoralische soziale Praktiken– wie das Duell oder die Sklaverei – historisch erst dann verändert wurden, als sie als unehrenhaft oder lächerlich galten.
Die Mehrheit der Teilnehmenden der Tagung haben die folgende Resolution verabschiedet:
Resolution an den Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft und die Bundesregierung
- Zugang aller Nutztiere zu verschiedenen Klimazonen, vorzugsweise Außenklima,
- Angebot unterschiedlicher Funktionsbereiche mit verschiedenen Bodenbelägen,
- Angebot von Einrichtungen, Stoffen und Reizen zur artgemäßen Beschäftigung, Nahrungsaufnahme und Körperpflege,
- Angebot von ausreichend Platz,
- Verzicht auf Amputationen.
Die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung „Chancen für mehr Tierschutz? - Konsequenzen aus einem veränderten Mensch-Tier-Verhältnis“ an der Evangelischen Akademie Bad Boll (3.-5. März 2017) fordern als Konsequenz aus einem veränderten Mensch-Tier-Verhältnis die Bundesregierung auf, die folgenden Vorschläge aus dem Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“ des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik beim BMEL möglichst umgehend umzusetzen:
Bad Boll, 5. März 2017
Die Tagung, die gemeinsam mit dem Bundesverband der beamteten Tierärzte (BbT), der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht (DJGT), dem Bund gegen Missbrauch der Tiere e. V. (bmt), dem Bundesverband Praktizierender Tierärzte (Bpt), dem Deutschen Tierschutzbund e. V. (DTSchB), der Gesellschaft für Versuchstierkunde (GV-SOLAS) und der Internationalen Gesellschaft für Nutztierhaltung (IGN) veranstaltet wurde, wurde vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert.