„Die Augenwischerei, dass die Konflikte und Kriege in den fernen Ländern uns nichts angingen, hat endgültig ihr Ende erreicht“, sagte der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, in seiner Festrede vor 170 Gästen beim heutigen Neujahrsempfang (10.01.2016) in der Evangelischen Akademie Bad Boll.
„Wenn wir Menschen eine Verantwortungs-Gemeinschaft sind, müssen wir zuerst die Fluchtursachen bekämpfen“, so Lilie. Unfaire globale Handelsbedingungen, die Missachtung von Menschenrechten und Umweltstandards bei Lieferketten, wachsende soziale Ungleichheit, Waffenlieferungen in Krisengebiete, rücksichtslose Ressourcen- und Energieverbrauch: Diese Fluchtursachen seien nicht gegeben, sondern von Menschen gemacht und daher gestaltbar: „Die Flüchtlinge sind nicht das Problem, sie sind die Opfer dieser ungelösten Probleme.“
Er rief zu einer neuen europäischen Flüchtlingspolitik auf, die sich am Maßstab des Menschrechts auf Asyl orientiert. Die Dublin III-Verordnung sei gescheitert. Europa müsse Wege zur legalen Einreise ermöglichen. Er forderte die sofortige Aufnahme von mindestens 750 000 Menschen aus den Transitstaaten wie Libanon, Türkei und Jordanien. Jeder Schutzsuchende solle nach einer Beratung sein Zufluchtsland einmal selbst wählen dürfen. Darüber hinaus sei ein Neuansiedlungsprogramm mit jährlichen Kontingenten in jedem EU-Staat nötig.
Deutschland werde sich durch die Geflüchteten verändern, sagte Lilie. „Doch es kommt kein Stoßtrupp einer ‚fremden‘ Kultur oder Religion mit gezielten Übernahmeabsichten.“ Es kommen Fleißige und Faule, Träumer und Realisten, Religiöse und Unreligiöse – Künstler, Ärzte, Hebammen, Arbeiter und Menschen, die weder lesen noch schreiben können. „Die Aufnahme von Flüchtlingen und ihre gelingende Integration ist eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft“, ist Lilie überzeugt.
Wie Studien zeigen, sind die Deutschen weiterhin offen für Geflüchtete, wenn die Einheimischen den Eindruck gewinnen, dass die eigenen sozialen Rechte nicht beeinträchtigt werden und die kulturelle – auch christliche – Identität erkennbar bleibt. Lilie: „Daran gilt es zu arbeiten.“
Eine neue Kultur der Zusammenarbeit und der Improvisation sei nötig. Eine, die nicht in erster Linie von feuerpolizeilichen, hygienischen und versicherungsrechtlichen Bedenken getragen sei, sondern eine Kultur „aus Geistesgegenwart und gesundem Menschenverstand“. Nicht nur den Alteingesessen werde diese Improvisationskultur abverlangt, auch von den Neuankömmlingen könne dies erwartet werden: „Wir dürfen von Menschen, die kommen und bleiben wollen, Realismus erwarten. Wir dürfen Forderungen stellen: Die Sprache muss gelernt werden – ohne Deutschkenntnisse keine Integration.“ Das Strafrecht müsse eingehalten, Respekt und Toleranz gelebt werden.
Ulrich Lilie: „Heute sind es die Bürgerkriegsflüchtlinge. Gut möglich, dass sich bald Klima- oder Hungerflüchtlinge auf den Weg machen werden. Und wer wollte sie aufhalten? Wer dürfte es, wenn gelten soll, dass Menschenrechte unteilbar sind?“
Im Anschluss an die Festrede berichtete der Leiter der Projektgruppe Sonderkontingent Nordirak im Staatsministerium, Dr. Michael Blume, von seinen Erfahrungen. In dem Projekt wurden 1000 Frauen und Kinder aus dem Nordirak nach Baden-Württemberg geholt. Er erzählte von dem achtjährigen Mädchen, das vergewaltigt worden war, dem Neunjährigen, der als Kindersoldat auf seine eigenen Leute schießen sollte, und der 13-Jährigen, die ein Bild von ihrem getöteten Vater und Bruder auf ihrem Handy hat – der letzten Erinnerung, die sie an die beiden hat. Blume: „Wir können nicht allen helfen, aber vielen.“
Die Evangelische Akademie wird auch 2016 Tagungen zu aktuellen Themen anbieten. Die Direktoren Prof. Dr. Jörg Hübner und Dr. Günter Renz gaben abschließend einen Überblick über die inhaltlichen Schwerpunkte der Akademiearbeit.
Musikalisch begleitet wurde der Empfang von der Musik Johann Sebastians Bachs unter der Leitung von Kirchenmusikdirektor Gerald Buß.
- Festrede des Präsidenten der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie
Die Pressemitteilung enthält 3985 Zeichen (mit Leerzeichen).