Europa, das ist irgendwie gut. Manchmal ist es heuchlerisch, manchmal zwiespältig und manchmal zum Schämen. Aber was ist das - Europa? Die Tagung der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung in Bad Boll Ende März: "Wie sind die Europäischen Friedensvisionen (noch) zu retten?" hat mir hier zu erster Klarheit verholfen.
Dabei hat mir insbesondere mein emotionales Erfahrungsgedächtnis (Maja Storch) geholfen, also mein Bauchgefühl. Als es um die neuesten "Projekte" der Europäischen Union in Sachen Frieden ging, spürte ich eine distanzierte, misstrauische Abneigung gegenüber diesem Europa, das sich floskelhafte Worthülsen umhängt, um besonders findige Interessengruppen im Namen von Frieden und Sicherheit beim Geldscheffeln zu unterstützen. Dankbar nahm ich die detaillierte Dekonstruktion dieser Konstrukte zur Kenntnis und merkte doch eine Müdigkeit, solchen Entwicklungen immer nur hinterher arbeiten zu können. Das ist definitiv nicht mein Europa.
Europa 2040 - wohin gehen die Trends? Ein vierminütiger Clip über Zukunftsbilder aus vier Szenarien versetzte mein Inneres in die Zukunft. Einen europäischen Super-Überwachungsstaat will ich nicht. Aber die Möglichkeit, dass 2040 die EU zerfallen ist und nichts von einem Projekt Europa übrig ist, das ist alarmierend.
Um was geht es mir, wenn ich an Europa denke? Mein archimedischer Punkt kristallisierte sich heraus, als ich für eine kleine Visionsübung, eine Reise in eine gewünschte Zukunft, meinen Standpunkt definierte. Ist es mein EU-Pass, meine Zugehörigkeit zur Europäischen Union, die für mich Europa ausmacht? Lange dachte ich so, doch es kam anders.
Europa ist vor allem Nähe, Dichte und Vielfalt mit anderen. Es ist ein historischer Raum von engstem Austausch zwischen Verschiedenen, die in blutigen Auseinandersetzungen sich immer wieder dagegen gewehrt haben, zu sehr vereinheitlicht zu werden. Es ist derselbe Raum, der durchdrungen ist von gegenseitigem Austausch von Ideen, Fertigkeiten, Handel und Produktionsweisen. Welch ein gemeinsames Erfahrungswissen! Welch eine Vielfalt und Reichtum von unterschiedlichen Lösungen auf dieselben Herausforderungen. Was hier nur so unzulänglich in Worte gezwängt wird, stand als Bild lebendigst vor mir. Und ich mittendrin.
Das Europa, für das ich bin, sind Kreise von Menschen. Kreise deshalb, weil die kein oben und unten, kein vorne und hinten, keinen Chefsessel und keinen Katzentisch haben. Im Kreis sind alle gleichwertig auf Augenhöhe.
Die Menschen in diesen Kreisen sind Menschen aus den verschiedenen Ländern, die sich Europa zugehörig fühlen. Da gibt es keinen exklusiven Club und keine Vormächtigen, die das europäisch-Sein von anderen definieren. Und ja, schau an, darin sind Länder, die sich sowohl europäisch sehen und auch noch was anderes. Worüber reden die Menschen in den Kreisen? Sie wollen Probleme lösen. Und dafür greifen sie auf die unterschiedlichen Fertigkeiten zurück, die die einzelnen aus ihren Ländern mitbringen. Das macht sie echt neugierig auf einander.
Besonders viel Spaß hatten die Menschen in den Kreisen, als sie daran dachten, wie sie es geschafft haben, den europäischen Institutionen genau den dienenden Rang zuzuweisen, der ihnen zukommt. Denn in dem Europa, für das ich bin, begegnen sich Menschen auf Augenhöhe und organisieren sich, damit sie in Würde, Wohlergehen und Frieden in ihren verschiedenen Ländern mit einander leben können. Ach ja, einander menschlich auf Augenhöhe begegnen, ist natürlich keine europäische Spezialdisziplin - eher noch Lernstoff. Unterschiedlichkeit als Bereicherung anzuerkennen ist auch nicht begrenzt auf Menschen in europäischen Ländern.
Europa beginnt zu leben, wenn ich mich darin auch sehen kann. Das war meine Lektion.
So, das ist meine Messlatte für alles, was sich mir als europäisch-wertvoll verkaufen möchte.
Dr. Barbara Müller ist Friedens- und Konfliktforscherin. Sie war Referentin bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll zum Thema „Wie sind die Europäischen Friedensvisionen noch zu retten?“ (29.-31.3.2019).